Rezensionen

Thomas Weckerle (Hg.): Michael Morgner - Werkverzeichnis Bilder und Plastiken. Hatje Cantz

Wenn alle Werke Michael Morgners (*1942) sich in dieser einmaligen Publikation zusammenfinden, entsteht nicht nur ein beeindruckendes Panorama dieses außergewöhnlichen Schaffens, sondern vielmehr ein Blick auf das Leben hinter den Gemälden und Plastiken. Ein Überblick über Morgners Œuvre war längst überfällig. Melanie Obraz hat die schöpferische Vielfalt des Chemnitzer Künstler nun erkundet und auf neue Weise entdecken dürfen.

Cover © Hatje Cantz Verlag
Cover © Hatje Cantz Verlag

Herausgeber Thomas Weckerle stellt in seiner Einführung die Hauptmerkmale der Artikel der Kunstwissenschaftler:innen und Kunsthistoriker:innen heraus, die im Besonderen mit dem Werk Michael Morgners eng vertraut sind. Dadurch wirkt bereits zu Beginn die künstlerische Szenerie zum Werk des Chemnitzer Malers und Plastikers imposant. Das besondere Augenmerk liegt selbstverständlich auf der schöpferischen Entwicklung und fragt damit zugleich nach der Kontinuität, die Morgner als Künstler so einmalig macht.
Eindringlich zeigt das Buch mit dem Titel „Werkverzeichnis“, zahlreiche farbige wie schwarz-weiße Abbildungen der Werke (Bilder und Plastiken) Michael Morgners, die das Anliegen des Künstlers exemplarisch herausstellen und die reine Rationalität auf den Prüfstand stellen - und zwar nicht in dem Sinne, dass das Irrationale in Morgners Kunst Einzug hält, sondern, dass Morgner die Ratio lediglich als eine der mannigfaltigen Funktionen des ganzen Menschen begreift und damit zugleich das Wesen Mensch als ein Physisch-Sinnliches wie Psychisch-Geistiges darzustellen vermag. Textbeiträge namhafter Expert:innen stellen nun endlich das gesamte Œuvre Michael Morgners vor und erleichtern damit das Verstehen seiner vielschichtig anmutenden Arbeiten.

Die geistige und religiöse Prägung von Michael Morgner (*1942) tritt klar in und mit seinen Werken hervor: Die Zentrierung auf die Darstellung des Kreuzes und den Tod am Kreuz forciert auch in der Farbgebung schwarz-weiß und in den Brauntönen die spirituell-religiöse Ausrichtung. In diesem Sinne bringen sich etwa seit 2014 auch vier monumentale Arbeiten Morgners in den Dom zu Meißen ein. Die Serie "Urknall - Kreuzigung - Höllensturz - Auferstehung" überzeugt nicht zuletzt durch die Allgemeingültigkeit ihrer religiösen Aussage,  sondern bindet Architektur und Werk zu einer Einheit zusammen. Morgners Zugang ist dabei aber keine Anpassung um jeden Preis, sondern ein Hineinwachsen. Dem historischen Raum wird eine verlorene Dimension zurückgegeben, ein in Bildern gestaltetes geistiges und geistliches Leben.

© Hatje Cantz Verlag
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Die christliche Substanz sucht und findet Morgner hier vor allem im Ich eines jeden Menschen. Doch ist es nie die Ausweglosigkeit, die sich in einer Hoffnungslosigkeit findet, da jede Einengung für Morgner keine Option ist und seine Kunst stets zur Diskussion auffordert und zur Interaktion zwischen Betrachter und Werk . Er stellt der Verzweiflung die Hoffnung entgegen, die auf einen neuen Menschen blickt. Seine Christusdarstellungen gleichen einem allgemein gültigen Appell an das Menschliche. Die Idee und die sich daran anknüpfende Erfahrung sind für ihn auch in der Plastik des Schreitenden ein basales Element, da hier das Emotionale und Affektive stark im Vordergrund steht und somit den freien Raum der Selbstbestimmung eröffnet. In eben dieser Weise überschreitet Morgner das traditionelle Christentum in Richtung Natur und Kosmos. Der Mensch ist auf seine Kreativität zurückgeworfen und auf sie angewiesen, um als schöpferisches Wesen, der Sinnlosigkeit zu entkommen.

Brigitta Milde stellt in ihrem Beitrag heraus, dass der Künstler seit 1959 von seinem Chemnitzer Künstlerkollegen Karl Schmidt-Rottluff fasziniert und inspiriert war und auch von einer Picasso-Ausstellung 1966 die entscheidenden Inspirationen empfing.
Obwohl auch die Antike als Leitbild in Morgners Kunstauffassung aufscheint, gelingt dem Maler, Grafiker und Plastiker eine individuelle Weiterentwicklung der Interpretationen des Ovid (Metamorphosen), eben weil er nicht die Sichtweise der Antike kopiert, sondern eher Picassos diesbezügliche Radierungen in Betracht zieht. Alles scheint so bereits einer steten Transformation und Weiterentwicklung im Auge des Künstlers Morgner unterworfen oder vereinnahmt worden zu sein.

© Hatje Cantz Verlag
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Den Textbeiträgen der Experten, gelingt es den Leser:in dahingehend zu sensibilisieren. Es wird das Interesse an einer solchen Vielseitigkeit und Eigenart des künstlerischen Schaffens geweckt. Gern möchte man mehr erfahren, mehr sehen. Auch diesem Wunsch kommt das Buch nach. Die Abbildungen geben nicht nur einen Überblick, sondern weisen zugleich auf  die Monumentalität des Gesamtwerkes hin. Abstrakte Formen in einer Kombination mit stilisierten Menschenbildern zeigen sich z.B. in dem Triptychon von 1974 „Die Nacht - Für Neruda“. Auch die Tatsache, dass Morgner Gründungsmitglied der Künstlergruppe Clara Mosch war und sich damit eine Perspektive für die Künstler ergab, die sich in einer völligen ästhetischen Freiheit auszeichnete, findet logischerweise Erwähnung. Die "Vermeidung jeglichen Fremdeinflusses" (womit wohl eine Bevormundung gemeint sein soll) wird angesprochen, obwohl auch Morgner geradezu in die sich entwickelnden Kunsttendenzen eingebunden war, um überhaupt seinen Weg in dieser Weise beschreiten zu können. Aber es waren eben die eigens von ihm ausgewählten Themen und Kunstrichtungen, die ihn begleiteten. Darauf legen die Verfasser:innen der Aufsätze den Tenor und heben hervor, dass auch Lebenseinschnitte den Künstler zu einer Neuorientierung führten.

So hebt Cornelia Nowak hervor, dass die Arbeitsweise Morgners einer „Schöpfung mit Narben“ gleicht, weil er auf der Suche nach einer künstlerischen Sprache sein Werk einer dynamisierenden Umorientierung stets offenhält. Das Verletzliche und Resignative verbindet seine Kunst auch mit Werken von Joseph Beuys und Wilhelm Lehmbruck – wie es auch die monochrom gehaltenen Arbeiten andeuten. Das Feste und Starre ist stets dem Flüssigen und Wandelbaren gegenübergestellt oder vereinigt sich in seinen Werken zu einem neuen, verbindenden Dritten. Morgners Arbeiten verlangen nach der Hingabe an ein Menschenbild, welches nicht abgeschlossen und als Beispiel für etwas Vollkommenes gelten kann.

Selbstverständlich finden in diesem Werk auch Morgners künstlerische Techniken Raum - darunter seine Verwendung von Materialien wie Seidenpapier, Büttenpapier oder Zeitungspapier wie auch sein stilistischer Eigensinn als Stahlplastiker.

© Hatje Cantz Verlag
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Als Fazit sei betont, dass das Buch ein besonderes Augenmerk auf die religiös inspirierte Kunst des Michael Morgner legt und hiermit eine Interpretationsaufforderung an die Leser:innen bzw. Betrachter:innen überträgt. „Près de Golgotha“, „Deutsches Requiem“, „Jüdisches Requiem“, „Ecce Homo“ – die Werke sind bereits namentlich von der theologisch-religiösen Problematik der Zeiten erfüllt. Die Beschäftigung mit den theologischen Aussagen Dietrich Bonhoeffers initiierten die Idee zum Deutschen wie auch zum Jüdischen Requiem (Zeichnungen und Bildzyklen). Als roter Faden zieht sich eine Todesthematik durch sein Werk , die sich auch bei Picasso und Arnulf Rainer bekundet.

Subtil wird damit ein Diskurs angestoßen, der die Kunst als Ausdrucksmittel des Menschlichen wie das Verstehen des Göttlichen und des Leides zum Inhalt hat .
Wenn sich die Werke Michael Morgners in dieser einmaligen Publikation zusammenfinden, entsteht nicht nur ein beeindruckendes Panorama seines außergewöhnlichen Schaffens, sondern ebenso ein Blick auf den Menschen Morgner hinter den Gemälden und Plastiken . In diesem Sinne darf auch das Wort "Hybridität" gewählt werden, um die Möglichkeiten der Interpretationsvielfalt, des Übergreifenden, hinsichtlich seines Schaffens klar herauszustellen. Es gilt, alte eingefahrene Wege zu verlassen, sich von Vorurteilen zu befreien, denn nur auf diese Weise kann der Geist des Urchristentums mit Hilfe der Kunst zurückerobert werden.

© Hatje Cantz Verlag
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Und ganz plötzlich erhellt sich durch diesen Hoffnungsschimmer jede noch so trostlose Gegenwart. Im Textbeitrag von Stefan Behrens heißt es schließlich: „In einer Zeit des vorgekauten Massengeschmacks der einfachen, zugängigen Bilder, ist Morgner ein Außenseiter und wird es vorerst bleiben.“
Morgner thematisiert eben das Zerbrechliche und Filigrane des Seelischen in Bezug auf ein Göttliches, welches für den Menschen stets ein Enigma bleiben wird.

Michael Morgner Werkverzeichnis. Gemälde und Plastiken
Hrsg.: Thomas Weckerle, WRT Stiftung
Text(e) von: Stefan Behrens, Wolfgang Holler, Ulrich Kavka, Ulrich Krempel, Brigitta Milde, Cornelia Nowak, Jutta Penndorf, Gestaltung von Torsten Köchlin und Joana Katte
Verlag: Hatje Cantz
2022. 440 Seiten, 820 Abb.
gebunden
24,00 x 30,00 cm
ISBN 978-3-7757-4839-1

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