Rezensionen

Stanley Abe: Imagining Sculpture. A Short Conjectural History. Hirmer-Verlag

Stanley Abe entwirft in seinem Werk „Imagining Sculpture“ eine Art reichhaltigen Bilderreigen, der jedes Exponat mit detailliert prägnanten Wortimpressionen begleitet und den Blick auf die Skulptur neu ausrichtet. Ideen, Ruinen und die Kunstgattungen der uns vertrauten römischen wie griechischen Antike stehen dabei neben antiken Kunstwerken des Fernen Ostens, erfassen das Wesen der Skulptur neu und begeistern mit variierenden Herausforderungen des Sehens. Melanie Obraz hat sich inspirieren lassen.

Cover ©Hirmer Verlag
Cover ©Hirmer Verlag

Der Kunsthistoriker und Experte für chinesische und buddhistische Kunst Stanley Abe, weist mit seinem Werk auf die Sphäre der Skulptur und ihre bildkulturellen Grenzen hin. Welche Rolle spielte sie im fernöstlichen Raum und war sie als Skulptur im Sinne einer künstlerischen Ausdrucksform überhaupt sichtbar?
Die Vernetzung zwischen Kunst und Geschichte bekundet überaus interessante Grenzverschiebungen in den letzten Jahrhunderten. Damit erweist sich eine differenzielle Sichtweise auf die Skulptur, die zunächst im asiatischen Raum nicht einmal als jene spezielle Kunstform benannt, denn geschweige als solche wahrgenommen wurde. Hiermit entwirft sich ein spannender Kulturtransfer, in welchem Darstellungsweisen und Abgrenzungen eine Verdeutlichung erfahren. Die sich entfaltenden transkulturellen Dynamiken zwischen Asien und Europa, werden vom Autor mit zahlreichen Bildwerken begleitet. Ebenso wird deutlich auf welche Art und Weise die Kunstform der Skulptur als eine Bildkunst Grenzen zwischen westlicher, asiatischer Interpretation überwindet und gleichsam erweitert. Text wie Bildauswahl bekunden einen vielfältigen Perspektivenwechsel und erklären zugleich die sich wandelnden ideologisch-intellektuellen Weltanschauungen. Hier lässt der Autor ein hybrides Genre entstehen, um die chinesische und vor allem die buddhistische Kunsttradition emphatisch zu feiern.

Abe geht es jedoch nicht um eine bloße Gegenüberstellung europäischer und asiatischer Skulpturen, sondern um eine gemeinsame Betrachtung der Werke. Dabei entwirft der Autor auf beiden Seiten neue Sichtweisen und stellt Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Auffassungen der Interpretationen heraus. Kultur exponiert sich geradezu in den Werken und zeigt, wie Menschen aus unterschiedlichen Zivilisationskreisen doch viele Übereinstimmungen in den Künsten finden können.

Das Buch bietet mit zahlreichen Bildern eine Anleitung zur Betrachtung, die nie eine Überforderung für das Auge beinhaltet, sondern mit den angefügten lesenswerten Assoziationen den Blick auf das Wesentliche präzisiert. Der Autor nimmt eben keine Beschreibung vor und auch keine bloße Erklärung des Sichtbaren. Vielmehr zeigt Abe wie sehr seine eigene intuitiv gewonnene wie auch fundierte Blickrichtung die Betrachter:innen leiten kann. Ganz in diesem Sinne beginnt Abe mit der Bemerkung, „Skulptur sei eben nur ein Wort“ und fügt besinnlich hinzu, „eben ein englisches Wort“. Damit gibt der Autor zu verstehen, dass in einigen Kulturen – im Besonderen der asiatischen - die Skulptur nicht als die spezifische Kunstform definiert wird, da die Werke meist in Bezug auf einen religiösen Aspekt, wie z.B. den Buddhismus gefertigt werden.
Jene Exponate werden wahrgenommen, aber nicht als spezielle Kunstgattung Skulptur, sondern immer in Bezug auf einen religiösen Aspekt, wie z.B. den Buddhismus. Es geht um Erweiterung des kunsthistorischen wie des künstlerisch initiierten Sehens überhaupt. Das Werk vermittelt einen ganzheitlichen Aspekt und fordert die Lesern:innen auf, das Kulturübergreifende, ja Völkerverbindende zu entdecken.

The Ming Tombs, Nanking. From John Thomson, Illustrations of China and Its People (London: Sampson Low, Marston, Low, and Searle, 1873), vol. 3, fig. 20.
The Ming Tombs, Nanking. From John Thomson, Illustrations of China and Its People (London: Sampson Low, Marston, Low, and Searle, 1873), vol. 3, fig. 20.

Also begeben sich die Betrachter:innen auf einen Weg, um die Skulptur im Besonderen vor dem eigenen Auge erneut entstehen zu lassen. Hier eröffnen sich unterschiedlichste Ebenen der Ikonografie und der Ikonologie, mit denen die Betrachter:innen konfrontiert werden. Als Grundlage dient zunächst der reine Vorgang der Betrachtung, um sodann die Ebene des Lesens zu eröffnen. Darin besteht die Vielschichtigkeit wie auch die Herausforderung des 397 Seiten umfassenden Bandes. Das Magische, das Kultische und eben das Numinose stehen in den fernöstlichen Exponaten ebenso zur Debatte wie in jenen uns angeblich so bekannten Werken aus Europa. Als Beispiel zeigt Abe den David des Michelangelo Buonarroti, um an ein immer wieder von Neuem beginnendes Staunen zu erinnern. Ein Staunen, welches hier basal ist, um ein Kunstwerk - wie den David - emotional verstehen zu können. Ein solches Staunen veranlasst die Betrachter:innen zu verweilen, um den enigmatischen Charakter des Werkes als Kunstobjekt anzunehmen. Damit weist Abe zugleich auf die miteinander in Verbindung stehenden Ebenen eines religiös akzentuierten (Asien) und eines an der Ästhetik (Europa) orientierten Staunens hin. Das in fünf Bücher/Kapitel(plus Prolog und Epilog) unterteilte Buch spiegelt die Kunst Asiens und Europas in Reflexionen, einer Zusammenschau vergleichbar, wider. Damit eröffnet sich eine Claritas, die auf die Unterschiede wie auch die verbindlichen Aspekte der jeweiligen skulpturalen Ausdrucksweise hindeutet.

Ein wahrer Schatz variierender Blickrichtungen tut sich vor dem inneren Auge auf. Abe eröffnet der Skulptur einen neuen Raum und fordert die Betrachter:innen auf, jenen visuell zu betreten. Sein Hauptaugenmerk dreht sich um das 17.-19. Jahrhundert, um den Kreis bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu vollenden. Doch erscheinen hier nicht nur Werke der Kunst, der Autor erzählt zudem die Geschichte der Menschen, die als Künstler voneinander lernten und sich beeinflussten. Wie selbstverständlich tritt dabei der Schweizer Johann Heinrich Füssli neben den chinesischen Künstler Dagoba.
Aus diesem Grunde legt der Autor Wert darauf, außergewöhnliche Persönlichkeiten wie Michael Alphonsus - auch bekannt als Shen Fu Tsung, der als chinesischer katholischer Konvertit Bekanntheit erlangte - in seinem Werk vorzustellen. Die Person Alphonsus ist interessant, da er den Königen-Louis XIV. und James II. vorgestellt wurde, und letzterer sich von seiner Gelehrsamkeit dermaßen angetan zeigte, dass er ihn portraitieren ließ. Das Portrait inszeniert die Person als eine Art Skulptur „of its own“ innerhalb des Gemäldes. Ebenso stehen Orientalisten und Sprachwissenschaftler im Mittelpunkt.
Das in englischer Sprache erschienene Werk brilliert aber nicht nur durch seine Optik, sondern ebenso in einer Ausdrucksform, die eine künstlerische Geisteshaltung offenkundig macht und nach einer einfühlsamen Übersetzung verlangt. Dabei ist es wichtig, nicht nur wortgetreu und grammatikalisch genau das Englische in die deutsche Sprache zu übertragen, sondern den eigenen Charakter des Englischen auf der Ebene der deutschen Sprache neu erstehen zu lassen. Eine Herausforderung, die Genuss verspricht.
Denn es ist erstaunlich mit welcher Nonchalance Abe Lebensläufe und künstlerisches Schaffen miteinander verbindet. Seine Ausführungen sind höchst lehrreich, ohne je belehrend zu erscheinen und so folgt man als Leser:in gern den Reflexionen des Autors. Bemerkenswert ist dabei die Fülle an Informationen, die mit ausgewählten Abbildungen geschmückt wird. Abe kreiert damit ein komplexes und vielfältiges System der asiatischen und auch der europäischen Ikonographie.

Johan Zoffany, Charles Townley in His Sculpture Garden, 1782, Towneley Hall Art Gallery and Museum, Burnley, UK. © Towneley Hall Art Gallery and Museum/Bridgeman Image
Johan Zoffany, Charles Townley in His Sculpture Garden, 1782, Towneley Hall Art Gallery and Museum, Burnley, UK. © Towneley Hall Art Gallery and Museum/Bridgeman Image

Der Autor präsentiert Zentralasien als Region der Begegnung zwischen den frühen asiatischen Hochkulturen und die daraus erblühende eigenständige buddhistische Kunst, die in einer extravaganten ästhetischen Beziehung zur europäischen Kunstform steht. Die Leser:innen des Buches finden hier den Anhaltspunkt, um in diese exotische Welt hineinzusehen. Sogleich wird klar, dass ein intensiver Austausch mit den Kulturen des Abendlandes stattfand, und der besondere Gehalt des Religiösen dabei von herausragender Wichtigkeit war, da die Skulptur in Asien nicht als Ausdruck der Kunst bestand, sondern als Inbegriff des Religiösen. Der Autor zeigt anhand vielfältiger Beispiele, dass Kunst auch als eine Kultur der Erinnerung wachgehalten wird, um vergessenen Traditionen einen neuen Wirkungskreis zu ermöglichen.
Vor allem trat im Westen der Aspekt des Exotischen in virulenter Weise in Erscheinung und trug zu jener Aura der Exklusivität bei, die sich in dem Transfer von Motiven auszeichneten und Gemeinsamkeiten spezifizierten. Die Leser:innen haben zugleich Teil an jener Spannung, die sich zwischen alten Vorbildern und neu zu entwickelnder Kunst zwischen Asien und Europa entbirgt. Die ästhetisch-intellektuelle Reise in die Kunst der Vergangenheit Asiens und Europas weckt so die Neugier auf die Zukunft, die sich zwischen den Kulturen noch entwickeln kann.

Titel: Imagining Sculpture: A Short Conjectural History
Autor: Stanley Abe
Hirmer-Verlag
München 2022
397 Seiten
Sprache: Englisch
ISBN 978-3-7774-3758-3

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