Immer wieder sind es markante Jahreszahlen, etwa Geburts- oder Todesdaten, die Kuratoren den äußeren Anlass für große Ausstellungsprojekte bieten. So auch in Köln, wo das Wallraf-Richartz-Museum im Horizont des näher rückenden Tintoretto-Jubiläums schon jetzt den internationalen Reigen anstehender Ausstellungen zu Ehren des bedeutenden, 1518 oder 1519 geborenen venezianischen Malers eröffnet hat. Rainer K. Wick hat die eindrucksvolle Ausstellung, die sich unter dem etwas reißerischen Motto »A star was born« auf das Frühwerk des Meisters konzentriert, besucht und das nicht minder beeindruckende, bei Hirmer erschienene Katalogbuch gelesen.
Tintoretto, der eigentlich Jacopo Robusti hieß, aber mit seinem Spitz- und Künstlernamen »Färberlein« (er war der Sohn eines Färbers) in die Geschichte eingegangen ist, war einer der herausragenden Maler im Venedig des 16. Jahrhunderts. Gleichwohl gehörte es zu seinem Schicksal, jahrzehntelang den Vergleich mit seinem berühmten, dreißig Jahre älteren Vorgänger Tizian erdulden zu müssen, ja in dessen Schatten zu stehen. Und auch die moderne Forschung hat ihm, gemessen an Tizian, nur ein mäßiges Interesse entgegengebracht. Umso erfreulicher, dass er in letzter Zeit Gegenstand intensivierter Forschungsbemühungen geworden ist und nun anlässlich seines 500. Geburtstags (das genaue Datum ist umstritten) durch ambitionierte Ausstellungsprojekte in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt.
Die noch bis Ende Januar 2018 laufende Kölner Ausstellung, die anschließend ins Musée du Luxembourg in Paris geht, wurde von Roland Krischel, Leiter der Mittelalterabteilung des Wallraf-Richartz-Museums und ausgewiesener Tintoretto-Experte, kuratiert. Dabei hat sich Krischel auf die Zeitspanne bis Mitte der 1550er Jahre, also auf das sog. Frühwerk des Künstlers, beschränkt. Man mag bedauern, dass in Köln eines der Hauptwerke aus dieser Zeit, mit dem Tintoretto seinen Ruhm begründete, nämlich das großartige und großformatige »Sklavenwunder« von 1547/48 aus der Accademia in Venedig fehlt (ein Bild, über das Krischel übrigens vor mehr als zwanzig Jahren dissertiert hat), doch wird der Besucher durch eine Fülle anderer Meisterwerke entschädigt, die das herausragende Können dieses Ausnahmekünstlers eindrucksvoll belegen. Und es gibt Überraschungen. So konnte Krischel unter anderem zeigen, dass das »Liebeslabyrinth« aus der Royal Collection der britischen Königin nicht, wie bisher angenommen, von dem flämischen Maler Lodewijk Toeput stammt, sondern von dem jungen Tintoretto, und dass es sich bei dem Annibale Caracci zugeschriebenen »Bildnis eines Mannes« aus dem Palazzo Pitti in Florenz ebenfalls um einen Tintoretto handelt. Ohne hier Einzelheiten zu referieren, sei schon an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die im Ausstellungskatalog publizierten Ergebnisse aus der jüngeren Forschung das Buch zu einem maßgeblichen Referenzwerk des aktuellen Tintoretto-Diskurses machen, wie überhaupt diese bei Hirmer in gewohnter Qualität verlegte Publikation mit ihren sachhaltigen einführenden Essays von Stefania Mason, Giuseppe Gullino, Linda Borean, Michel Hochmann, Roland Krischel, Erasmus Weddigen und Guillaume Cassegrain, den in die Tiefe gehenden Einzelanalysen und den zahlreichen, zum Teil ganzseitigen Abbildungen uneingeschränkt zu empfehlen ist.
Die Ausstellung selbst in den abgedunkelten Räumlichkeiten des Tiefgeschosses des von Oswald Mathias Ungers entworfenen Museumsgebäudes ist thematisch in sieben Abteilungen gegliedert. Die erste Sektion »Ins Auge springen« zeigt Arbeiten des zwanzig- bis fünfundzwanzigjährigen Malers, der kurze Zeit Schüler Tizians gewesen sein soll und spätestens im Januar 1538 als »Meister« mit eigener Werkstatt nachweisbar ist. Hier arbeitete er anfänglich sowohl auf eigene Rechnung als auch, wie seinerzeit üblich, als Subunternehmer für andere Maler, unter anderem für Tizian. Schon in diesen frühen, stilistisch noch uneinheitlichen Werken manifestiert sich Tintorettos ausgeprägte Neigung zu szenographischen Effekten, bewegten Figurenarrangements und erzählerischen Inszenierungen, so etwa in dem großformatigen Gemälde »Jesus unter den Schriftgelehrten (›Disputà‹)« aus der Zeit um 1539, das im Eingangsbereich der Ausstellung den Auftakt bildet.
Tintorettos souveräne Beherrschung des Figurativen zeigen in der zweiten, »Schönheit und Schrecken« titulierten Abteilung unter anderem zwei achteckige Tableaus, die ursprünglich als Füllungen einer kassettierten Holzdecke im Palazzo Pisani bei der Kirche San Paternian in Venedig dienten und Themen aus Ovids »Metamorphosen« behandeln. Hier bewies der junge Maler in der Bewältigung schwierigster Verkürzungen der in starker Untersicht gegebenen Figuren eine Virtuosität, die exemplarisch auch in der Sektion »Die dritte Dimension« aufscheint.
Tintoretto hatte ein ausgesprochenes Interesse an den plastischen Qualitäten einer Form, und zu Studienzwecken zeichnete er sowohl nach antiken Plastiken als auch nach Skulpturen zeitgenössischer Künstler wie Michelangelo, Daniele da Volterra oder Jacopo Sansovino. Hatte sich in Venedig im frühen 16. Jahrhundert mit Giorgione und Tizian eine Malkultur etabliert, die – anders als es bei den Florentiner und mittelitalienischen Künstlern der Fall war – nicht primär von der Zeichnung, vom Umriss, von der Linie herkam, sondern von der Farbe, vom Kolorit, so ging es Tintoretto um eine Synthese von Form und Farbe, von Zeichnung und Kolorit, ein Bemühen, das schon früh auf die griffige, wenn auch grob simplifizierende Formel »Die Zeichnung Michelangelos und die Farbe Tizians« gebracht wurde.
Tintoretto zeichnete nicht nur nach antiken Skulpturen und plastischen Bildwerken prominenter Bildhauer des 16. Jahrhunderts, sondern auch nach eigenhändig angefertigten kleinen Figuren, die er in einer Modellbühne arrangierte und ausleuchtete, um die Bildwirkungen möglicher Kompositionen zu testen. Und in der Tat ist den Bildern des Malers häufig ein ausgesprochen theatralischer Zug zu eigen, was in der Abteilung »Kulissenzauber« besonders deutlich wird. Auffallend sind hier die perspektivisch in die Tiefe fluchtenden Architekturen, die sich an Zeichnungen des Architekten Baldassare Peruzzi und insbesondere an Illustrationen aus Serlios Architekturtraktaten orientieren. Typisch manieristisch ist für zahlreiche Gemälde Tintorettos, so zum Beispiel auch für das Bild »Christus und die Ehebrecherin« aus der Zeit um 1547 bis 1549 (Rijksmuseum Amsterdam), nicht nur die »Ausdehnung des Bildraumes durch eine Hinterbühne, die sich dem vorderen Teil des Schauplatzes als offener Straßenzug anschließt und sie vedutenhaft vertieft«, wie Arnold Hauser in seinem grundlegenden Manierismus-Buch ausgeführt hat. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der direkte Vergleich mit Paris Bordones »Bathseba im Bade« (um 1547/48) aus dem Besitz des Wallraf-Richartz-Museums mit einer von Serlio angeregten Architekturkulisse, wie sie sich ähnlich auch bei Tintoretto findet.
Die Abteilung »Tintoretto und sein Double«, in der es um die Rolle des kaum bekannten Giovanni Galizzi als Tintorettos Kollege, Mitarbeiter, Partner und Konkurrent geht, wirft mehr Fragen auf als Antworten zu liefern. Ob Krischels polarisierende Gegenüberstellung des »Genies Tintoretto und [des in seiner Werkstatt tätigen] Handwerkers Giovanni Galizzi« den komplexen Sachverhalt trifft, mag dahingestellt bleiben, erweist sich doch »die Grenzziehung zwischen den Werken beider Maler«, also die Frage der Händescheidung, als überaus schwierig. Zukünftige Forschungen mögen hier für mehr Klarheit sorgen.
Weitgehend Klarheit besteht hingegen im Hinblick auf Tintoretto als Porträtmaler und dessen »blickende Bilder«, die bezüglich Farbigkeit, Lichtregie, Requisiten und Haltung der Dargestellten vielfach den Einfluss Tizians erkennen lassen. Besonders eindrucksvoll sind das Selbstporträt des jungen Malers (um 1547), der den Betrachter mit seinen großen, geweiteten Augen aufmerksam, ja durchdringend anschaut, und das eingangs bereits erwähnte, bisher für eine Arbeit Annibale Carraccis gehaltene »Porträt eines Mannes« (um 1547/48 oder um 1557), das in seinem psychologisierenden Realismus und seiner lockeren Malweise wie aus der Zeit gefallen erscheint und spätere Entwicklungen, von Frans Hals über Géricault bis hin zur Moderne, vorwegzunehmen scheint.
Unter der Überschrift »Femmes fatales« versammelt die Ausstellung in ihrer letzten Abteilung einige herausragende Gemälde, die Tintoretto als Meister der in Venedig traditionsreichen Aktmalerei ausweisen. Hervorgehoben seien nur zwei Bilder, in denen Frauen als schöne Verführerinnen auftreten, nämlich »Der Sündenfall« (um 1551/52; Accademia, Venedig) und »Joseph und Potiphars Weib« (um 1554/55; Prado, Madrid). Beim »Sündenfall« spricht Krischel von einer der »besten Aktdarstellungen der venezianischen Malerei überhaupt« und verweist auf den Nachhall dieses Bildes bis hin zu Tiepolo und ins 19. Jahrhundert. Die an den Baum der Erkenntnis geschmiegte, die verbotene Frucht präsentierende Eva bezeichnet er als »personifizierte Verführung«, vor der der in Rückenansicht gegebene muskulöse Adam erschrocken zurückweicht. Durch die betonten Körperdiagonalen unterstreicht Tintoretto die Dramatik des Geschehens, das mit unerbittlicher Konsequenz auf die Vertreibung aus dem Paradies hinausläuft – eine Szene, die der Maler rechts im Bild miniaturhaft in den Landschaftshintergrund eingefügt hat. – Mehr noch als in diesem Bild kommt in dem Gemälde »Joseph und Potiphars Weib« eminent Erotisches, ja Sexuelles ins Spiel. Die auf einem Bett liegende unbekleidete Frau, die an eine venezianische Edelkurtisane jener Zeit denken lässt, setzt all ihre sinnlichen Reize ein, um Joseph zu verführen, mehr noch, sie versucht, ihn mithilfe eines Tuchs aktiv zu sich herabzuziehen, vergeblich offenbar, befindet er sich doch schon in einer heftigen Rückwärtsbewegung. Einmal mehr tritt hier Tintorettos unnachahmliche Erzählkunst zu Tage, die ihm bei Jean-Paul Sartre den Ehrentitel des »ersten Filmregisseurs« eintrug.
Tintoretto hat sein Leben lang wie ein Besessener gearbeitet und als »Schnellmaler« (schon Vasari hat seine Schnelligkeit hervorgehoben) ein gigantisches Œuvre hinterlassen, von dem in Köln – zumal angesichts der Beschränkung auf die ersten Schaffensjahrzehnte des Künstlers – selbstverständlich nur ein Bruchteil zu sehen ist. Gleichwohl zeigt die mit höchstem Sachverstand von Roland Krischel kuratierte Schau, dass Tintoretto schon früh zu »Originalität und Kraft, intellektueller und psychologischer Durchdringung des jeweiligen Bildthemas, erzählerischer Konsistenz und konzeptioneller Bewältigung der Bildaufgabe« gelangte. Und bei aller Skepsis gegenüber Versuchen, Künstler in Stilschubladen einzusortieren, wird man doch Rodolfo Pallucchini zustimmen können, der Tintoretto als den größten Vertreter des Manierismus in Venedig gewürdigt hat. Davon zeugen auch in Köln manche der figurenreichen Kompositionen mit ihren typisch manieristischen szenographischen Effekten, mit überlängten Gestalten, teilweise in Sepentinata-Manier, mit geschickt platzierten Repoussoirfiguren, mit ungleichen Raumfüllungen und Verschiebungen der Hauptszene aus dem Vordergrund oder der Mitte in den Hintergrund oder zur Seite, mit betonter Tiefenräumlichkeit durch forcierte Perspektiven und Verkürzungen sowie mit dynamischen Bilddiagonalen, starken Dimensionssprüngen und kräftigen Beleuchtungskontrasten.
Von den Forschungserträgen, die dem aufmerksamen Leser im Begleitbuch zur Ausstellung offeriert werden, war andeutungsweise schon die Rede. Dass die übersichtlich gegliederte Ausstellung selbst einen ästhetischen Hochgenuss bietet, sollte freilich nicht unerwähnt bleiben.