Als Schauspielerin und Kabarettistin machte Valeska Gert Anfang des 20. Jahrhunderts Karriere. Ihre Einzigartigkeit beschränkte sich jedoch nicht auf die darstellende Kunst; im Rückblick zeigt sich, dass Fotografien von ihr eine eigene künstlerische Qualität besitzen. Vanessa Gotthardt hat sich einmal angeschaut, warum.
Den Kopf zurückgeworfen und mit weit aufgerissenem Mund lacht die Frau in die Kamera. Wie aus einem tiefen Schatten auftauchend zeigt sie ihre weißen Zähne und fixiert dabei, unter halb geschlossenen Lidern, ihren Betrachter. Beinahe möchte man ebenso lauthals lachend einstimmen, aber irgendetwas stimmt nicht. Und jetzt, auf den zweiten Blick erst, bemerkt man sie, die kleinen, aber dennoch verstörenden Details: den einseitig etwas nach oben verwischten Lippenstift. Oder den in der Bewegung viel zu überspreizten Hals, der im kleinen Seidenkragen des Kostüms eingeschnürt ist. Wandert der Blick dann weiter auf die nebenstehende Fotografie, scheint sich die ungute Ahnung zu bestätigen. Mit hängenden Schultern hat die Frau ihr Gesicht jetzt im Schmerz zusammengekniffen, um im folgenden Bild schließlich, mit nach hinten gerollten Augen und einem wie im Krampf zusammengezogenem Körper, in eine andere Welt entrückt zu sein.
Betitelt ist die wohl im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von Jaro von Tucholka angefertigte fotografische Reihe sehr prägnant mit einem einzigen Wort: »Tod«. Bei der jungen Frau, welche ihr eindrucksvolles Minen- und Körperspiel auf diese Weise festhalten ließ, handelt es sich um Valeska Gert, die wohl zu Recht eine der schillerndsten Tanz- und Kabarettkünstlerin der Weimarer Republik genannt werden darf.
Die Abbildung von Tänzern und die Auseinandersetzung mit dem tanzenden Körper ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Kunstwelt nichts Neues mehr. Mit der technischen Weiterentwicklung der Fotografie ergibt sich zu diesem Zeitpunkt jedoch die Möglichkeit, den künstlerischen Tanz unter wesentlich einfacheren Bedingungen auch mit diesem Medium festzuhalten. Und so ist es nicht verwunderlich, dass Valeska Gert mit ihren außergewöhnlichen und zu ihrer Zeit einzigartigen Ausdruckstänzen die Fotografen ihrer Zeit begeisterte. Lotte Jacobi, Erna Lendvai-Dircksen, Lili Baruch und Otto Umbehr sind nur einige von denen, welche die Künstlerin immer wieder in inszenierten Studioaufnahmen und Reportagen hinter den Kulissen aufnahmen.
Ein Konvolut solcher Tanzfotografien ist nun im zweiten Band der Schriftenreihe »TheaterErkundungen« erschienen, in der ausgewählte Bestände der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln aufgearbeitet und vorgestellt werden sollen. Anhand von Essays und bestückt mit rund 90 Fotografien, Programmzetteln, Zeitungsausschnitten und Grafiken soll die schmale, aber vielversprechende Publikation den in den Fotografien präsenten inneren Zusammenhang zwischen Tanz und Fotografie herausarbeiten. Darüber hinaus soll ein erster Einblick gegeben werden in Leben und Arbeit jener Künstlerin, die vor allem zu Beginn Ihrer Karriere als Zukunft einer neuen Tanzgeneration galt.
Hedwig Müller, Leiterin der Theaterwissenschaftlichen Sammlung und Herausgeberin des Bandes, führt den Leser in einem ersten Essay vor allem in Valeska Gerts künstlerische Arbeitsweise und Entwicklung ein. 1892 geboren, tritt Gert ab 1916 mit ihren provokativen Tanzdarbietungen im In- und Ausland auf. Schreiend, lachend, stöhnend und weinend lässt sie vor dem Publikum auf ungeahnte Weise Motive wie Orgasmus, Sterben und Tod als bewegte Bilder entstehen und schafft eine neue Ausdrucksform für die kulturellen und sozialen Phänomene ihrer Zeit. In oftmals knallbunten Kostümen überzeichnet sie tänzerisch immer wieder bestimmte Typen, meistens Randfiguren, deren charakteristische Bewegungen sie aus Szenen des urbanen Alltags extrahiert. Ein Extrakt sind für Hedwig Müller auch die Fotografien, welche diese Tänze einzufangen versuchen. In scheinbar gezielt ausgewählten Posen ließ sich mit der Kamera das Kondensat einer Figur für ein Millionenpublikum und vermeintlich bis in alle Ewigkeit festhalten. Und doch besitzen die Fotografien nicht allein dokumentarischen Charakter. Wie in Einzelstudien nahmen sie die in der ausgeführten Bewegung eingefangene Geschichte der jeweiligen Figur mit auf.
Als Jüdin kann Valeska Gert ab 1933 nur noch unter erschwerten Bedingungen in Deutschland arbeiten. 1939 emigriert sie in die USA und lässt auch hier das Tanzen nicht sein. Bis 1948 wird sie im Exil bleiben und in New York recht erfolgreich das Exil-Kabarett »Beggar Bar« betreiben. Als sie 1949 nach Deutschland zurückkehrt, hat ihre künstlerische Arbeit einen tiefgreifenden Wandel durchlebt. Unablässig wird sie von nun an versuchen, vor einem gleichsam im Wandel begriffenen Publikum an ihre Erfolge vor dem zweiten Weltkrieg anzuknüpfen. Von diesen drei Perioden des Exils ̶ das Frühwerk wird unter dem metaphorischen Exil des Künstlers als Außenseiter gelesen ̶ und deren Einfluss auf Valeska Gerts Aufführungspraktiken und ihre künstlerische Arbeitsweise berichtet Kate Elswitt im zweiten Essay. Dass Valeska Gert die Transformation durchaus positiv für ihre Arbeit zu nutzen wusste wird dabei ebenso deutlich, wie die Tatsache, dass ihr Kampf, den durch den Zweiten Weltkrieg verursachten Bruch in ihrer künstlerischen Karriere zu überbrücken, kein Einzelschicksal darstellt. Bis an ihr Lebensende wird sich die Künstlerin dafür einsetzen, dass sie und ihr Œuvre als zentrale Bestandteile des Tanzes der Weimarer Republik wahrgenommen werden.
Von der Herausforderung, ein solches künstlerisches Werk einzufangen, das sich aufgrund seiner flüchtigen Natur eigentlich jedweder Fixierung verwehrt, spricht der Leiter des dt. Tanzarchivs Köln, Frank-Manuel Peter, schließlich im letzten Essay des Bandes. Die Tanzfotografien aus der Theaterwissenschaftlichen Sammlung sollen auch dazu beitragen, das nun von drei Studentinnen der Tanzwissenschaft begonnene Werkverzeichnis Valeska Gerts weiter zu erarbeiten. Ein erster Teil davon, der bis 1933 datiert, ist auf den letzten Seiten abgedruckt; dokumentiert wird die jeweils erste und letzte nachgewiesene Aufführung eines Tanzes der Künstlerin.
Auch wenn die Publikation im Rahmen der Theaterwissenschaftlichen Forschung entstanden ist und das Hauptaugenmerk auf dem Tanz als künstlerischer Ausdrucksform liegt, vermisst man doch eine intensivere Beschäftigung mit den hier aufeinandertreffenden Kunstformen Tanz und Fotografie. Hedwig Müller ermöglicht zwar einen ersten Einstieg und anhand einiger Fotografien greift sie die Besonderheit im Zusammenspiel auf. Trotzdem stehen am Ende der Lektüre eine Vielzahl an offenen Fragen: Was bedeutet die Bannung eines Augenblicks für eine Kunst, die nicht in Einzelmotiven festgehalten werden kann? Welchen eigenen Charakter der Performance haben die Fotografien? Wieviel Einfluss hatten die jeweiligen Fotografen auf die ausgewählten Posen, auf eine mögliche Inszenierung oder die Komposition? Ein Manko ist sicherlich auch die fehlende chronologische Ordnung der Fotografien und die Tatsache, dass der Großteil von ihnen und auch die abgedruckten Grafiken von Ernst Stern unbesprochen bleiben.
Trotz dieser kleinen Schwächen ist der Band aber durchaus empfehlenswert. Vor allem für diejenigen, welche einen ersten kurzweiligen Blick über das allgemein bekannte Tanzgeschehen der Weimarer Republik hinaus werfen wollen.