Buchrezensionen

Vinzenz Brinkmann (Hg.): Athen. Triumph der Bilder, Michael Imhof Verlag 2016

Denkt man an die antike Kunst, tauchen sofort beeindruckende Tempel mit mächtigen Säulen vor dem inneren Auge auf, deren Architektur die Plätze beherrschte und heute noch zu den sichtbarsten Zeugnissen alter griechischer Kunst zählt. Doch diese Architekturen hatten nicht nur Säulen bieten, sondern auch ein umfangreiches Bildprogramm. Im Katalog zur famosen Ausstellungs in der Liebieghaus Skulpturensammlung kann der Leser so einiges über ein spannendes Forschungsprogramm und eine wunderbare Bilderwelt erfahren. Ulrike Schuster hat ein neues Standardwerk entdeckt.

Der vorliegende Text- und Bildband ist der opulente Katalog zur gleichnamigen Ausstellung der renommierten Liebieghaus Skulpturensammlung in Frankfurt am Main. Dieser wiederum lag ein außergewöhnliches Forschungsprogramm zugrunde, in dessen Zentrum der Tempelschmuck auf der Athener Akropolis stand. Hochkarätig mit hauseigenen Objekten sowie wertvollen Leihgaben bestückt, rekonstruierte ein internationales Expertenteam die Ikonografie der Bildprogramme. Die Bilder, so Herausgeber Vinzenz Brinkmann, stünden zumeist im Schatten der Architektur. Doch im Verständnis des Altertums verhielt es sich genau umgekehrt, die baulichen Strukturen fungierten als Trägermedien der Bildwerke. In deren Zentrum stand der Mythos der Stadtgöttin Athena. Diese »Story« ist nur fragmentarisch überliefert, in unterschiedlichen und teilweise einander widersprechenden Versionen. Doch der Versuch, die Zeugnisse zum Sprechen zu bringen, lohnt sich. Er wirft ein neues Licht auf die Bauten auf der Akropolis.

An dieser Stelle sei auf das einzige – allerdings nicht unwesentliche – Manko hingewiesen: der Titel von Buch und Ausstellung ist eher nichtssagend, da ziemlich allgemein gehalten. Er verrät nichts darüber, dass hier ein faszinierendes Konzept zugrunde liegt, das sich auf ansprechende und spannende Weise präsentiert. Einmal aufgeschlagen, erschließt sich die dahinterstehende Idee im Zuge der Lektüre freilich recht schlüssig. Im Zentrum steht der Kreislauf des attischen Jahres mit seinem Festkalender, den Zeremonien, Feiern und Riten. Deren Ursprünge reichen zurück in die archaische Frühzeit Athens. Man ist erstaunt, wie wenig man eigentlich darüber weiß, wo man doch meinen würde, in diesem Bereich wäre alles schon bestens erforscht und in Taghelle ausgeleuchtet. Doch die Probleme sind vielfältig. Ein großer Teil der Bildwerke ging verloren und von den wenigen überkommenen sind die allermeisten nicht mehr in situ vorhanden. Immerhin liefern Darstellungen der attischen Vasenmalerei wichtige ergänzende Hinweise. Doch schriftliche Quellen fehlen fast vollständig. Es existieren lediglich Bruchstücke einer Erechtheus-Tragödie aus der Feder von Euripides. Allerdings, der Dichter stand bereits an der Schwelle des neuen perikleischen Zeitalters. Deshalb gilt es als hoch wahrscheinlich, dass er die alten mythischen Stoffe dem zeitgenössischen Interesse entsprechend umdichtete. Oliver Primavesi unterzieht in seinem Essay die erhaltenen Textfragmente einer umfangreichen Analyse.

Den zugrundeliegenden Mythos erläutert Vinzenz Brinkmann und die Geschichte liest sich packend. Am Anfang steht eine jungfräuliche Geburt. Mit Hilfe von Gaia, der vermutlich ersten Leihmutter der Weltgeschichte, bekommt Athena einen Sohn, Erechtheus. Sodann ereignet sich ein bedenklicher Betrug: die Göttin der Weisheit prellt den mächtigen Meeresgott Poseidon aufgrund von manipulierten Zeugenaussagen um seine Kultstätte auf der Akropolis. Er rächt sich, schickt unter anderem seinen Sohn Eumolpos in einen blutigen Krieg gegen die Athener. Am Ende fällt Erechtheus und zwei seiner Töchter sterben als »Jungfrauenopfer« – und doch wird der Tod überwunden! Der Sohn von Athena erlebt eine Art Wiederauferstehung in Gestalt einer Schlange, die in den Tiefen des Burgfelsens weiterlebt. Der Stoff klingt vertraut und unbekannt zugleich, vor allem aber liefert er den Schlüssel zur Deutung der skulpturalen Ausstattung des Akropolis-Bezirks.

Der Konflikt zwischen Pallas Athene und Poseidon, der daraus resultierende Krieg und die anschließende Versöhnung bildeten das Herzstück des Athena-Kultes auf der Akropolis. Die Zeremonien begleiteten den Jahreslauf und wurden im Relief festgehalten – sie bildeten den Inhalt des Parthenonfrieses. Der Bezug der Reliefs auf den Marmorplatten zum attischen Festkalender wird anschaulich erläutert. Dazu kommen neueste Daten zur Baugeschichte. Manolis Korres analysiert die bauliche Gesamtstruktur des Parthenons mit einem verblüffenden Befund: dieser berühmteste aller Tempel, Inbegriff der griechischen Klassik, der für uns wie aus einem Guss erscheint, soll während der Bauzeit einige Planänderungen erfahren haben, die vermutlich dem Anbringen zusätzlicher Friese geschuldet waren. Hans Ruprecht Goette untersucht die Chronologie zur Entstehung des Niketempels, der Propyläen und des Erechtheions. Daniel Graepler berichtet über den Göttinger Professors Karl Otfried Müller, der ein Pionier der archäologischen Forschung im frühen 19. Jahrhundert war. Er durfte, als einem der ersten, die berühmten »Elgin Marbles« unmittelbar nach deren Ankunft in London studieren und ließ davon Abgüsse anfertigen, die er der Göttinger Universität übermittelte.

Eingepackt in die Mitte der Katalogtexte offenbart das Team der Sammlung Liebieghaus schließlich seine größte Sensation. 1972 wurden im Meer bei Riace, im süditalienischen Kalabrien, zwei überlebensgroße hochklassische Bronzestatuen gefunden. Viel wurde seither geschrieben über die Herkunft und die Bedeutung der sogenannten Riace-Krieger. Nunmehr kommen Vinzenz Brinkmann und Ulla Koch-Brinkmann nach einer eingehenden, vierjährigen Untersuchung zu einer völlig neuen Interpretation: Demnach handelt es sich um die Standbilder von Erechtheus und dessen Gegenspieler Eumolpos, die sich einst in einer zentralen Position auf der Akropolis befanden! Deren aufwendig in Originalgröße gefertigten Rekonstruktionen sind ganz unzweifelhaft ein Blickfang. Es ist dem Katalog zu wünschen, dass er seinen wohlverdienten Weg in die Standardliteratur zur Akropolis findet.

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