Die Mutter-Kind-Zweiheit gehört nun einmal zu den Invarianten der menschlichen Existenz: Jeder von uns ist Kind einer Mutter. Doch so wie in der Kunst der Moderne alles zuvor Selbstverständliche entselbstverständlicht wurde, so erfährt zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch das Bild von Mutter und Kind seine problematisierende Infragestellung. Franz Siepe hat sich den Wandel näher besehen.
Erstaunlicherweise ist die jetzt im ehemaligen Wohn- und Atelierhaus August Mackes zu Bonn von Gesa Bartholomeyczik kuratierte Ausstellung »Zwischen Madonna und Mutter Courage« die erste, die sich dem künstlerischen Bild der Mutter in den drei umwälzungsreichen Dekaden nach 1900 widmet. Mit der wohlsortierten, Auge, Geist und Gemüt anregenden Schau eröffnet das Museum, das zugleich als Ausstellungshaus und Forschungsstätte fungiert und ausschließlich von bürgerschaftlichem Engagement lebt, neu, nachdem es im Sommer 2011 gründlich saniert und umgestaltet wurde.
Der Maler hatte 1911 mit Frau Elisabeth und Söhnchen Walter das Gebäude in der Bornheimer Straße bezogen, dessen Dachgeschoss seine Schwiegermutter als die Eigentümerin ihm zu einem geräumigen Atelier hatte ausbauen lassen. Macke empfing in diesem spätklassizistischen Bau mit dem idyllischen Garten nicht nur rheinische Künstlerkollegen, sondern auch auswärtige Prominenz wie Gabriele Münter, Robert Delaunay, Guillaume Apollinaire oder Franz Marc. Weit über vierhundert Werke entstanden in dem lichtdurchfluteten Atelier, das derzeit auch mit einigen Exponaten der aktuellen Ausstellung bestückt ist. So z. B. mit Heinrich Campendonks farbengesättigtem »Familienbild«, das sicherlich als ein Reflex des Glücks anzusehen ist, das der Maler angesichts der Geburt seines Sohnes Herbert empfand.
Auch August Macke zelebrierte sein Familienglück in einer ganzen Reihe von Gemälden. Ein Schluss liegt also nicht völlig fern: Privat wie auch künstlerisch ließen sich die Avantgardisten jener Jahre von einer Lebensweise beseligen, die wenig später als kleinbürgerlich diffamiert wurde: Vater, Mutter und Kind, Blumen in der Vase und spielende Kätzchen: »Trautes Heim, Glück allein« auch bei Mackes und Campendonks!
Maria, die Mutter Gottes, Königin des Himmels und der Erde, war die Symbolgestalt, die in den Wirrnissen der Welt Hoffnung und Heil versprach, wie Carlo Menses »Madonna mit Kind« von 1913/14 zu verkünden scheint. Ihr königlich bekröntes Haupt reicht inmitten gewaltiger Berge in den Himmel hinein; die Siedlungen der Menschen neigen sich ihrem schönen, nährenden Herzen und dem Christuskind auf ihrem Arm zu, und ihr prächtiger Königsmantel nimmt die Menschen zu Wasser und zu Land unter ihren mütterlichen Schutz.
Der Erste Weltkrieg schlug dann aus den Fugen, was zuvor noch einige Festigkeit und etwas orientierten Bestand gehabt hatte. Spätestens jetzt, nach dieser Katastrophe – August Macke fiel am 26. September 1914 –, sollte der »neue Mensch« aus der Asche und den Leichenbergen geboren werden; doch die Wunden wollten nicht heilen: Alles war bis ins Mark deformiert.
Davon, wie sehr das Allerkreatürlichste, die Mutterschaft, und das Allerintimste, die Liebe, im Zeichen von Irritation und Verzweiflung standen, zeugt Hannah Höchs »Frau und Saturn« von 1922. Die Künstlerin hatte mit dem – verheirateten – »Dadasophen« Raoul Hausmann eine jahrelange Affäre, die zwei Abtreibungen erzwang. Das Ölbild, das kurz nach dem Ende der heftig-tragischen Beziehung entstand, reflektiert den unerfüllten Kinderwunsch, indem es Hausmann als düster drohenden Saturn darstellt und die Künstlerin selbst mit einem imaginierten, seltsam gesichtslosen Säugling auf dem Arm porträtiert.
Hannah Höchs »Frau und Saturn« dokumentiert ein besonderes Schicksal, in dem sich jedoch auch allgemeiner die grassierende Pathologie des Sozialen abbildet: Während der Zwanziger Jahre war in der Sphäre von Liebe, Sittlichkeit und Sexualität eine erodierende Unübersichtlichkeit dominant geworden, welche das überkommene Familien-, Frauen- und Mutterbild radikal demontierte.
War die »neue Frau« als weiblicher Typus des auch von Raoul Hausmann postulierten »neuen Menschen« also glücklicher als die »alte«? Ein großes Verdienst der Bonner Ausstellung liegt darin, die beschleunigte Modernisierung – zentriert um die Mutter-Imago – sehr ausführlich auch mit Blick auf die wirklich armen Leute auf ihre Kosten hin zu befragen. Ernst Barlachs »Hungergruppe« (1933/34) mag exemplarisch für die reale Not stehen, in der sich die Modernisierungsverlierer am unteren Rand der gesellschaftlichen Schichtung massenweise befanden.
Eigenartigerweise war die »Zigeunermadonna« damals ein bevorzugtes Symbol marginalisierter Mutterexistenzen. Diesem Motiv, welches eine – stets rauchende – Roma-Mama stillend oder auch einfach barbusig mit Kind vorstellt, eignete wohl noch der gewisse Reiz des Exotisch-Erotischen; doch mit unverhohlenem, blankem Realismus zeichnen Käthe Kollwitz und Heinrich Zille das soziale und wirtschaftliche Elend, das keine Mutterschaftsidylle zulässt und so der Menschwerdung des Menschen brutal im Weg steht. Von schrecklicher Intensität sind die Kaltnadelradierungen »Die Waschküche« und »Das sterbende Kind« von Lea Grundig, die nach ihrer Remigration in die DDR Kunstprofessorin in Dresden und Mitglied im Zentralkomitee der SED war. Aus dem Fundus der marianischen Ikonografie ist es die Pietà, die Schmerzensmutter mit dem Leichnam des gekreuzigten Sohnes auf ihrem Schoß, die Mitleiden mit dem Leiden der Mütter am eindringlichsten offenbart.
Circa sechzig Werke von mehr als vierzig Künstlerinnen und Künstlern präsentiert die Bonner Themenausstellung. Neben den genannten sind weitere große Namen vertreten wie etwa Max Beckmann, Conrad Felixmüller, Wilhelm Lehmbruck, Paula Modersohn-Becker, Heinrich Nauen, Otto Pankok, Christian Rohlfs und Georg Schrimpf.
Der Ausstellungstitel »Zwischen Madonna und Mutter Courage« ist griffig und nicht schlecht gewählt; bringt er doch die kritische Existenzform des Mutter-und-Kind-Daseins zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Spannung zwischen dem christlich gefärbten Traditionsbild mütterlicher Caritas und der schieren Lebensnot, die tapferes Durchhalten zur Kardinaltugend erhebt, auf eine einleuchtende Formel. Möglicherweise herrscht dieses Spannungsverhältnis noch heute. Wie sonst würde man diese Ausstellung derartig berührt verlassen?