Rezensionen

«Das Farbenbuch» – eine Art von Universalgeschichte dreier Perfektionisten

Im Baukastenarsenal jeder kunstgeschichtlichen Bildanalyse bildet die Behandlung der Farbe einen essenziellen Parameter. Aber die Betrachtung rückt dabei meistens ästhetische Fragen in den Mittelpunkt: Der Ausstrahlung und Leuchtkraft gilt das Interesse, ihrer Nuancierung, dem Pinselauftrag, dem Zusammenklang und der Gesamtwirkung des Kolorits. Das hier zu besprechende Buch beantwortet in vorbildlicher Weise alle denkbar offenen Fragen, die mit dem «materiellen» Aspekten des Phänomens Farbe im Zusammenhang stehen. Es ist aber weitaus mehr: ein editorischer Superlativ und ein Beweis, dass nicht selten kleine Verlage ganz große Bücher herausbringen können. Ja, dem schweizerischen «Alata»-Verlag in der 3000-Seelen-Gemeinde Elsau bei Winterthur ist ein fulminanter Wurf gelungen, schwärmt Autor Walter Kayser.

Cover © Alataverlag
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In Marcel Prousts «Recherche» gibt es im 5. Band, betitelt «Die Gefangene», jene berühmte Stelle, wo der schon vom nahenden Tod gezeichnete schöngeistige Schriftsteller Bergotte sich einzig deshalb aufrafft, eine Vermeer-Ausstellung zu besuchen, weil er in dessen «Ansicht von Delft» von einer einzigartigen gelben Mauerecke gehört hatte. Obwohl er das Gemälde immer wieder ausgiebig studiert hatte, war ihm bislang diese koloristische Finesse entgangen. Er tritt vor das Bild, betrachtet die Farbe, stammelt sein Entzücken – und stirbt. Dieses «petit pan de mur jaune» wird ihm zum Sinnbild einer Kunst, die sich als «l’art pour l’art» über alles erhebt und vollständig selbst genügt.
Und eine solche Art der Betrachtung ist nicht nur sinnbildlich für den sublimen (vielleicht auch dekadent zu nennenden) Nuancenkult des «Fin de Siècle». Sie ist gewissermaßen typisch für die Art, mit der auch heute noch Bilder untersucht werden. Denn nach wie vor dürfte eine Kunstgeschichtler:in im Verlauf des Studiums nur am Rande etwas von der Beschaffenheit der Farben erfahren: wie die Pigmente aus pflanzlichen oder tierischen Stoffen gewonnen wurden, welche Bindemittel ein Maler in diesem oder jenem Jahrhundert verwandte, wie kostbar beispielsweise ein gewisses «Ultramarin-Blau» war, das so hieß, weil es nur von irgendwo «jenseits der Meere» zu beziehen und aus dem Stein Lapislazuli gewonnen wurde. Vielleicht hat er/sie dann auch noch in einer Vorlesung hören können, dass Maler im Mittelalter einem festen Symbolkanon folgend die Farben wählen mussten. Oder dass sie teilweise nach dem Wert der Farben bezahlt wurden, die sie in im vertraglich vereinbarten Umfang verwendet hatten - und nicht etwa, weil ihr Erfindungsreichtum oder ihre Ausdruckkraft besonders hervorstach. Der vorherrschenden ästhetischen Sicht in vielerlei Beziehung eine materielle Grundierung zu geben ist das Verdienst dieser großartigen Neuerscheinung. Dabei folgt sie einem Vorläufer, «Farbpigmente, Farbstoffe, Farbgeschichten» aus dem Jahr 2010. Doch dieses Standardwerk ist längst vergriffen und nur noch gelegentlich zu astronomischen Preisen antiquarisch zu erwerben. Es wäre unehrlich, wollte man unerwähnt lassen, dass daneben in den letzten Jahrzehnten auch etliche andere Beiträge zum Thema künstlerische Techniken und Farbmaterialien veröffentlicht wurden, etwa Schramms und Herings «Historische Malmaterialien» von 1989 oder zuletzt das mehrbändige «Die Natur der Farben» von Patrick Baty.

© Alataverlag
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Hier ist allerdings ein Werk anzuzeigen, das ganz neue Maßstäbe setzt. Es heißt so schlicht wie anspruchsvoll «Das Farbenbuch». Gewöhnlich meldet der in solcher Weise verwendete bestimmte Artikel in einem Buchtitel nicht gerade unbescheiden einen Exklusivitätsanspruch an, welcher zu Relativierung und zum Widerspruch reizt: Diesmal ist es nicht so. Der Titel wird der Ausnahmestellung gerecht, denn dieses Buch darf und wird in der Zukunft in keiner halbwegs renommierten Bibliothek fehlen. Je mehr man als Leser:in hin und her blättert, desto farbtrunkener wird man und desto grenzenloser stellt sich Bewunderung ein.

Schon die Aufmachung ist imposant: großes Format, nahezu 500 Seiten Hochglanzpapier, ein Gewicht von mehr als 3 Kilogramm (kein «Ziegel», sondern ein steinerner Koloss), und natürlich ein stolzer Preis. Bedenkt man, dass ein durchschnittlicher PC-Drucker mit vier Farbtinten auskommt (Cyan, Magenta, Gelb und Schwarz), so ist das Besondere hier, dass die Abbildungen in einem einzigartigen, letztlich handkorrigiertem 18-Farbendruck wiedergegeben werden. Man spürt, hier waren mit jeder Faser Perfektionisten am Werke. Ein Buch als unübertreffliches Kunstwerk von passionierten Farbspezialist:innen und Meistern in Sachen Präzisionshandwerk.
Nicht genug damit, dass dem/der Leser:in schon auf dem Einband Reihen von Pigmentpulverhäufchen als kleine Kleckse in die Augen springen. Allein an Pigmenten gibt es heutzutage mehr an der Zahl, als das Jahr Tage hat, - nämlich exakt 367. Der Mitherausgeber und Aargauer Künstler Stefan Muntwyler steuert eigenhändig Farbproben bei, indem er Muster eines jeden Tons in unterschiedlicher Farbdichte und -intensität ganzseitig (!) in alter Manier ausstreicht. Um den Idealvorstellungen entsprechen zu können, mussten die Farbwalzen in der Konstanzer Druckerei für jeden Druckbogen nachjustiert und «umgewaschen» werden, anders ließen sich die so gezeigten 700 (!) Muster in ihren unterschiedlichen Dichten und Abstufungen nicht farbgetreu vor Augen führen.

© Alataverlag
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Der Aufbau des Buches ist nicht so eindeutig, wie es das Inhaltsverzeichnis suggerieren könnte. Ihm zufolge würde man beim Lesen einen einfachen Dreischritt tun: Im ersten Teil, der grob die Hälfte des Buchumfangs in Anspruch nimmt und gewissermaßen die Basis legt, wird ein wissenschaftlicher Überblick in puncto Farbgewinnung, -produktion und -anwendung geboten. Im zweiten folgen exemplarische Farbanalysen bei ausgewählten Meisterwerken der Kunstgeschichte, von den Höhlenmalereien Lascauxs bis zur Gegenwart. Und im abschließenden dritten Abschnitt werden unter der Überschrift «Farbgeschichten» verschiedenste kulturgeschichtliche Exkurse und Anekdoten ausgebreitet.
Die übersichtliche Einteilung in drei Abschnitte wird der überbordenden Fülle an Informationen und visuellen Eindrücken nicht gerecht. Bereits das Kompendium am Anfang gibt nicht nur einen differenzierten Überblick über die aus Erden, Mineralien und Pflanzen gewonnenen Pigmente organischer und synthetisch anorganischer Art.

Wer etwa meint, Schwarz sei, weil es nun mal alle Lichtfrequenzen absorbiere, eigentliche keine oder einen Überschrift «unbunte» Farbe, wird eindrücklich eines Besseren belehrt. Wie auf einer Fotografie des Andreas Gursky wird in wimmelnder Dichte vor Augen geführt, dass sich allein durch die richtige Verkohlung von Fruchtkernen und Obststeinen nicht weniger als 42 verschiedene Schwarztöne ergeben. Welche Auszeichnung mit der kaiserlichen Purpur verbunden war, von der Senatorentoga über die byzantinischen Kaiser bis zu den Purpurträgern im katholischen Kardinalskollegium, ist vielen bekannt; und vermutlich auch, dass dieser Farbton aus der Hypobranchialdrüse der Murexschnecken gewonnen wurde. Aber was ist das schon gegen die traditionelle Herstellung des Indischen Gelbs? - «Eine kleine Gruppe von Milchbauern der indischen Provinz Bihar verfütterte Mangoblätter an Kühe, wodurch das Ausgangsprodukt Euxathon so umgewandelt wurde, dass die Kühe das Salz der Euxathinsäure ausschieden. Der aufgefangene Urin wurde eingekocht, ausgepresst und konzentriert. Das getrocknete Produkt kam in Kugelform, Piutri, in den Handel [...]»(146).
Das Buch ist voll von solch abenteuerlichen Geschichten, zumindest bis die chemische Industrie gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Farbproduktion revolutionierte. Jeder erdenkliche Ton wird mit System vorgestellt, indem ein festes Klassifikationsverfahren Auskunft gibt über die gebräuchlichen Namen für das jeweilige Pigment, sein spezifisches Vorkommen, die wichtigsten Abbaugebiete und Herstellungsverfahren. Der Einbezug von über 30 Gemälden und Fresken aus allen Epochen der Malerei verknüpft schon in diesem Herzstück des Buches die Welt der Farbmittel direkt mit der Kunstgeschichte. Querverweise machen deutlich, dass es zahlreiche Informationen zu dem angesprochenen Farberscheinungen auch an anderen Stellen gibt. Insgesamt entsteht so ein dichtes Gewebe von korrespondierenden Aspekten, ein Spektrum an inhaltlichen und optischen Bezügen, so dass der Text auch sprachlich niemals trocken wirkt, sondern anregend, perspektivenreich, unterhaltsam, überbordend, - ja, man gewinnt als Leser:in das Gefühl, in einem Farbenrausch förmlich baden zu können.

© Alataverlag
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Dem Geheimnis dieser Veröffentlichung kommt man auf die Spur, wenn man sich im «Appendix» die Biografien der drei Herausgeber anschaut: Alle drei entstammen derselben Generation und sehen in diesem Buchprojekt die Summa ihres Lebenswerkes. Dabei kamen sie aus ganz unterschiedlichen Richtungen (und auf manchmal nicht gradlinigen Lebenswegen) zum Phänomen Farbe, dem sie gleichermaßen verfallen sind: Stefan Muntwyler ist ursprünglich Volksschullehrer in der Zentralschweiz, daneben aber seit Jahrzehnten auch ein Maler, welcher sich der Farbforschung verschrieben hat. Als eine Art «Urszene» gibt er an, wie er vor nahezu einem halben Jahrhundert am Wochenende über die Absperrzäune eine Bauxitgrube in Otranto stieg und sich nicht satt sehen konnte an den verschiedenen Valeurs der im Tagebau ans Licht beförderten rötlichen Erden Apuliens.
Der in Prag geborene Jural Lipscher promovierte in physikalischer Chemie und interessiert sich ebenfalls schon ein Leben lang für die Grenzbereiche von Chemie und Kunst, vor allem für die Methoden, die bei der Farbuntersuchung von Kunstwerken zum Einsatz kommen. Und Hanspeter Schneider schließlich trieb als mehrfach ausgezeichneter Grafiker das gemeinsame Buchprojekt voran, denn seine eigentliche Leidenschaft gilt der möglichst präzisen Farbraumerweiterung im Druckbereich.
Die drei Herausgeber verbindet also eine schier grenzenlose Passion für ihr Lebensthema, die sich in einem perfektionistischem Anspruch an sich selbst ausdrückt. Und alle drei ergänzten sich in ihrer unermüdlichen Tüftelarbeit nicht nur aufs Beste, sondern waren offen und klug genug, 26 weitere Spezialist:innen als Autor:innen mit ins Boot zu holen. Es sind dies Expert:innen für Tuschmalerei, Restaurator:innen und Kurator:innen, Chemiker:innen, Archäolog:innen und Historiker:innen, welche in ihren jeweiligen Gebieten das Thema weiter ausdifferenzieren und vertiefen. Da tritt Bekanntes neben Unbekanntes, Skurriles neben Instruktives, immer kurzweilg und unterhaltsam zu lesen. - Was hat beispielsweise eine Forelle mit der Farbe zu tun? Dass Farbwörter einen wahren Schatz an poetischen Ausdrücken darstellen, ist sicherlich jedem schon einmal aufgefallen; nun klärt ein sprachwissenschaftlicher Essay auf, «Forelle» und «Farbe» hätten eine gemeinsame indogermanische Wurzel in «farwalo-», was soviel wie «gesprenkelt», «schillernd» und «bunt» bedeutet habe (- eine etymologische Herleitung, vor der die Brüder Grimm noch kapitulieren mussten). Oder man erfährt so nebenbei, dass die Handnegativ-Malereien auf prähistorischen Felswänden zum überwiegenden Teil von Frauen angefertigt wurden, welche pulverisierte Rot-Erden, vermischt mit ihrem Speichel, vor mehr als 30000 Jahren in «Airbrush-Technik» durch ein Blasröhrchen auf die Felswände sprühten. Noch die Kunstliebhaber:innen der vergangenen Generation mussten erst einmal schmerzlich verdauen, dass die schönsten Tempel und Skulpturen der griechisch-römischen Antike quietschbunt wie Ostereier angemalt waren und keinesfalls dem klassizistischen Geschmacksvorstellungen des frühen 19. Jahrhunderts vom «edlen Marmorweiß» entsprachen. Erstaunlich ist es auch, dass die Krönungsrobe der Stauferkaiser aus dem selben Läuseblut (= Karminrot E120) gewonnen wurde, wie es später für Lippenstifte benutzt und zum Markenzeichen des Kultdrinks Campari wurde (-nicht zu verwechseln mit dem speziellen DDP-Pigmenten, welche Ciba-Geigy entwickelten und heute besser bekannt sind als «Ferrari-Rot»). Dass ägyptische Leichen, mumifiziert und lang getrocknet, noch vor hundert Jahren (gründlich vermahlen, versteht sich) in gut geführten Apotheken als Arzneipülverchen verabreicht wurden, gehört zu den Horrormeldungen der Kulturgeschichte; dass Mumien aber auch ein sehr geschätztes zartes Braun mit leichtem Gelbstich ergaben, weniger. Erschreckend auch die Wirkung des so genannten «Schweinfurter Grüns», war es doch im Biedermeier als Modefarbe für Ballkleider oder Tapeten äußerst beliebt. Leider wurde es aus arsenhaltigen Erzen gewonnen, so dass es womöglich auch die Gesundheit des ewig kränkelnden Friedrich Schiller angriff, der sein Arbeitszimmer in Weimar ganz in diesem smaragdgrünen Ton ausgekleidet hatte.

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Immer wieder fühlt man sich bei der Lektüre in eine brodelnde Alchemistenküche versetzt. Und tatsächlich sind die Erkenntnisse vielfältig. Dass etwa Leonardo da Vinci mit seiner universalen Hochbegabung aus unstillbarem Forscherdrang immer wieder mit neuen Maltechniken herumexperimtieren musste, ist jedem bekannt, der einmal gesehen hat, wie sehr sein Mailänder «Abendmahl» im Refektorium des Dominikanerklosters Santa Maria delle Grazie konservatorisch darunter gelitten hat. (Ganz Ähnliches gilt für sein Gemälde von der Anghiari-Schlacht im «Salone der Cinquecento» im Florentiner Palazzo Vecchio). Eine genaue Analyse seiner nicht minder berühmten «Annaselbdritt» aus dem Louvre kann aber belegen, dass er bei diesem Bild so absichtlich wie kenntnisreich dasselbe Bleiweiß in unterschiedlicher Körnung und Kristallisationsgröße einsetzte: Er benutzte dieses älteste, schönste und giftigste Weiß als Imprimatur, als Unterlasur und dann, mit ganz speziellem Zusatz zur Wiedergabe der Gebirge im Hintergrund, die nur so in einem atmosphärischem Weiß erscheinen können, welches von einem duftigem Blau überhaucht wird und auf diese Weise etwas Entrückendes bekommen.

Bekanntlich gab der alte Goethe in einem seiner abendlichen Monologe gegenüber dem vertrauten Zuhörer Johann Peter Eckermann zu Protokoll: «Auf alles, was ich als Poet geleistet habe, bilde ich mir gar nichts ein.» Aber er sei in seinem «Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der einzige, der das Rechte weiß; darauf tue ich mir etwas zugute.» - Hier irrte Goethe. Aber er tat es auf grandiose Weise. So wenig es ihm gelungen war, den Physiker Isaac Newton zu widerlegen, so grandios war dieses sein Scheitern in den vielen Ausführungen gelungen, die den Charakter von Farbwirkungen in Geschichte und Natur betreffen.
Er wusste: Farben umgeben uns wie die Luft zum Atmen. Sie sind nicht nur Mittel zum Zweck, sondern wie der Mensch selbst und wie letztlich jedes Kunstwerk Selbstzweck. In unglaublichem Reichtum die Bezüge zwischen der Materialität und der Immaterialität von Farben vor Augen zu führen ist das nicht hoch genug zu schätzende Verdienst dieses Buches.



‎»Das Farbenbuch«

Herausgegeben von Stefan Muntwyler, Juraj Lipscher und Hanspeter Schneider

496 Seiten, 693 Farbmuster, 78 textile Färbungen, 17 Pigmentanalysen, 19 Farbgeschichten
Im 18-Farbendruck-Verfahren
Höhe33,5 cm / Breite24 cm / 3400 g
Alata-Verlag
Elsau (CH) bei Winterthur 2022
ISBN-10 ‏: ‎3033088791
ISBN-13 ‏: ‎978-3033088795


Preis: € 196 CHF/€

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