Rezensionen

Michel Pastoureau: Alle unsere Farben. Eine schillernde Kulturgeschichte

Mit den Farben geht es uns oft genug so, wie dem Fisch mit dem Wasser: Er weiß nicht, was es ist, weil er sich darin bewegt. Vom ersten Augenaufschlag, ja, noch zuvor im Mutterleib, nehmen wir sie als unsere Lebenswelt wahr; und gerade weil sie uns so selbstverständlich umgeben, nehmen wir sie eben nicht mehr bewusst wahr. Michel Pastoureau hat sich sein ganzes Forscherleben als mediävistischer Historiker an der Pariser «École Pratique des Hautes Études» mit westlicher Symbolik, mit dem Teufel, mit Fabeltieren in der Heraldik und Numismatik, zuvörderst aber stets erneut mit Farben beschäftigt. Dabei ging es ihm stets um die kulturgeschichtlichen Zuschreibungen und Bedeutungen. Monographische Bücher zu den Farben Blau, Gelb, Rot, Schwarz, Weiß und Streifen liegen vor. Jetzt endlich wurde ein Buch ins Deutsche übersetzt, was schon 2010 unter dem Titel «Les couleurs des nos souvenirs» in der «Éditions de Seuil» in Frankreich erschien. Es kann als die Summa des mittlerweile 75-Jährigen angesprochen werden. Walter Kayser, der sich für das PKG schon mehrfach mit dem Thema beschäftigte, hat es für äußerst kurzweilig und erhellend befunden.

© Klaus Wagenbach Verlag
© Klaus Wagenbach Verlag

Dass Farben unbewusst in uns eindringen, uns tief prägen und leiten wie Düfte der Kindheit, ist hirnphysiologisch längst bewiesen. Sie unterlaufen die Kontrollschranken zum Limbischen System und veranlassen die unmittelbare Ausschüttung von Glücksstoffen und körpereigenen Opioiden. Jüngst bewies eine groß angelegte Studie im Wuppertaler Uniklinikum Erstaunliches: Durch den überlegten Einsatz von farblicher Gestaltung und Licht war es möglich, Heilungsprozesse zu beschleunigen und etwa ein Drittel an Schmerzmitteln einzusparen. Und zudem wirkten sich in vielerlei Hinsicht die Farben auf das subjektive Wohlbefinden der Patienten wie des Personals aus, wie Prof. Axel Buether herausfand, der diese Studie maßgeblich durchführte.

Wie sehr die gleiche Farbe in unterschiedlichen Kulturen andersartig empfunden wird, ist ein Grundton der essayistischen Betrachtungen, die hier zur Diskussion stehen. Denn jede Kultur begreift Farben immer nur vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen klimatischen und natürlichen Gegebenheiten, ihrer je eigenen Geschichte und Traditionen. Das gilt, wenn auch abgeschwächt, entsprechend für die spezifischen Erfahrungen eines individuellen Lebensweges. Es sind eben die langsamen, kaum merklichen Strukturverschiebungen, für welche einst Fernand Braudel den Begriff der «longues durées» prägte, welche hier im Hintergrund stehen.

Der Ansatz des Autors ist immer noch untypisch für das gängige deutsche Wissenschaftsverständnis. Ist dieses von einer geradezu sakrosankten Trennung zwischen privatem und öffentlichem Forschungsinteresse gekennzeichnet und huldigt es dem Ideal unbestechlicher Objektivität, so wählt Michel Pastoureau mit der Nonchalance eines älteren französischen Gelehrten den gegenteiligen Ansatz. In der Tradition eines Roland Barthes oder Foucaults speist sich sein Interesse an Farben aus urpersönlichen Motiven, die er keineswegs verheimlicht, sondern geradezu zelebriert. Ist es doch in Frankreich seit langem durchaus gang und gäbe, äußerst klug und originell über die unterschiedlichsten Gegenstände zu schreiben und dabei keineswegs von sich abzusehen, sondern sich von ureigensten Impulsen steuern zu lassen. In aller Regel sind es also biografische Anknüpfungspunkte, die Pastoureau einen Erinnerungsanlass geben, über Farbsymboliken und -erkenntnisse zu referieren. Das verrät schon der französische Originaltitel «Les couleurs des nos souvenirs», ein Umstand, welcher in der belanglosen deutschen Übersetzung «Alle unsere Farben» völlig unterschlagen wird. Mit dem großen Michel de Montaigne scheint der Verfasser also sagen zu können: «Ich selber, mein lieber Leser, bin der Inhalt meines Buches» und: «Der wahre Spiegel der Vernunft ist also der Lauf unseres Lebens».

Pastoureau erfindet für dieses Erinnerungsbuch in der Einleitung den Gattungsbegriff «Farbtagebuch» (13). Der einzig passende Sprachstil der Betrachtungen ist deshalb das Parlando mehr oder weniger in sich geschlossener Essais. Diese wollen keine Disziplingrenzen akzeptieren, sondern zwischen den Demarkationslinien der Forschungsgebiete lustig vagabundieren. Da geht es um das Verschwinden des obligaten schwarzen Anzugs zugunsten des blauen, um das Aufkommen farbiger Unterwäsche (denn «in Europa war sämtliche Kleidung, die den Körper berührte, über Jahrhunderte weiß oder ungebleicht» (33). Es geht um die Geschichte der Ampelanlagen auf Europas Straßen, welche wohl die Schiffs- und Eisenbahnsignale als Vorfahren haben. Dabei erfahren wir so nebenbei, dass die Farbe Grün, lange bevor sie für Naturnähe und ökologisches Bewusstsein stand, keineswegs schon immer das Bedeutungsfeld von «Erlauben, Gewähren und freie Durchfahrt» nahelegte, sondern im Gegenteil im Mittelalter die Lieblingsfarbe des Leibhaftigen war und mit Falschheit, Gift und Gefahr assoziiert wurde. In anderen Kapiteln nimmt der Verfasser die ewigen Dresscodes der Jugend unter die Lupe, jene äußerst differenzierten Farbdiversifizierungen der Jeans beispielsweise, die wohl jede:r Leser:in kennt, welche /welcher in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geboren ist. Es geht um den Zusammenhang von Design und Farbe, um die Lackierung von Autos und die Inneneinrichtung von Apotheken, das verlockende Orangegelb von Bonbonautomaten und das spezifische Gelb einer Anzugweste Andrè Bretons, der in der Kindheit des Verfassers regelmäßig sein Elternhaus besuchte und ihm Buntstifte mitbrachte. Soziologisches steht neben Linguistischem, kunsthistorische Betrachtungen neben der Geschichte der Chemie, Mode neben Sportwelt. Niemals erscheinen «Mythen des Alltags» zu geringfügig, um nicht in der Nachfolge Roland Barthes hintergründig analysiert zu werden.

Das Merkwürdige ist, dass dieses Buch über Farben ganz ohne Abbildungen auskommt. Es ist, als ob man in eine Falle tappe: Das Cover lockt mit verstaubten Regalbrettern voller Apothekergläser, in denen in unterschiedlichen Abstufungen die pulverisierten Pigmente der Grundfarben Gelb, Rot und Blau changieren.
Das Innere des Buches aber bietet dem Auge nichts als diese ewigen Schwarz-Weiß-Geländer von Buchstabenreihen aus Druckerschwärze auf weißem Grund. Die Tatsache, dass dies keineswegs eintönig und das Buch seinem Anspruch, eine «schillernde Kulturgeschichte» darzustellen, durchaus gerecht wird, verdankt sich zum einen dem lockeren Aufbau und unterhaltsamen Ton des Autors – und andererseits der wunderbaren Fähigkeit aller guten Bücher: Bilder, ja ein ganzes Feuerwerk im Kopf entstehen zu lassen.

Sehr bald dürfte allen Leser:innen klar sein, Pastoureau verfügt nach jahrzehntelangen Studien zur Farbgeschichte so souverän über einschlägige Kenntnisse auf diesem Gebiet wie wohl kaum jemand anderes. Wer sonst könnte uns erklären, seit wann genau das Schachbrettmuster auf dem Weg von Asien nach Europa nicht mehr rot-schwarz, sondern im für uns so klaren schwarz-weiß eingefärbt wurde? Oder dass die Vereinsfarben der beiden großen Mailänder Fußballclubs auf mittelalterliche Stadtquartiere zurückgehen? Gibt es eigentlich Farblosigkeit und wie wird sie umschrieben? Wer außer Pastoureau wüsste beispielsweise mitzuteilen, dass seit 1880, ob in Frankreich oder in ganz Europa, ob bei Männern oder Frauen, ungeachtet allen technischen und sozialen Wandels, stets die gleiche Reihenfolge angegeben wurde, wenn unter den sechs Grundfarben die Favoritin gekürt werden sollte, nämlich: Blau – Grün – Rot – Weiß – Schwarz – Gelb? (Und dass das in Japan keineswegs so ist? Hier ist nämlich die Lieblingsfarbe konstant Weiß.) Dieses Ranking überrascht aber den Verfasser keineswegs, denn: «Die Geschichte der Farbe Gelb in Europa ist die eines langen, stetigen Abstiegs» (120). Dabei war sie in der griechisch-römischen Antike noch sehr beliebt, spielte sie doch im gesellschaftlichen Leben wie bei religiösen Ritualen damals eine herausgehobene Rolle. Doch im Mittelalter verlor sie mehr und mehr an Gunst. Sie wurde zur Farbe des Neids, und der Lüge, der Feigheit und der Niedertracht. Gelb war Verrätern vorbehalten, sei es Judas in Giottos Scrovegni-Kapelle oder die treubrüchigen Ritter der Tafelrunde. Schließlich endete sie als symbolisches Schandmal und Kleidungsabzeichen, das Ketzer, Aussätzige oder Juden brandmarkte.

Mag sein, dass Pastoureau bei all seinem Wissen deshalb manchmal das Abseitig-Skurrile als besondere Herausforderung reizte. Er sinnt über die die Farbentwicklung von Joghurtdeckeln in den 90er Jahren ebenso nach wie über die Kennzeichnung von Skipisten und Judogürteln. Eine der so spannenden wie überflüssigen Fragen, welcher er hingebungsvoll nachgeht, ist etwa die Frage: Warum trägt der Etappensieger bei der Tour de France seit 1919 ausgerechnet ein gelbes Trikot, welches bis heute ein Fetischobjekt geblieben ist? - Die Antwort ist so ernüchternd wie vordergründig: «Das Druckpapier der Tageszeitung L’Auto, die das Großereignis organisierte, war gelb. Es handelte sich um ein glanzloses Blassgelb, mit dem damals billiges Papier für den schnelllebigen Bedarf und den Massenkonsum eingefärbt wurde; kurzum ein weder gewürdigtes noch würdigendes Gelb» (121).

Ähnlich desillusionierend ist die Antwort auf die Frage nach der Herkunft von Rotkäppchens Haube oder nach der abergläubischen Ablehnung des Grüns in französischen Theatern. Ob er sich über die Fellfarbenbezeichnungen von Pferden auslässt oder zu erklären versucht, warum ausgerechnet in der mediterranen Antike, umgeben von tiefblauem Himmel und Meer, das Blau so wenig erwähnt wird, - immer streut der Verfasser bei seinen leichtfüßigen Streifzügen hierhin und dorthin sein immenses Wissen lässig ein, um dann wieder in seinen biografischen Plauderton zu verfallen und sich Abschweifungen hinzugeben.
Immer wieder macht der Autor am Beispiel der Farbzuschreibungen deutlich: Sehen ist nicht gleich Wahrnehmen. Farben werden nicht mehr als materielle Wesenheiten verstanden, wie die Wortwurzeln von gr. krohma wie von lat. color erahnen lassen, welche beide so etwas wie «Haut» und «Umhüllung» meinten, sondern als Ideen gesehen.
Am Ende wissen wir von Michel Pastoureau eine Menge an sehr privaten Details: Er ist ein eingefleischter Pariser, der auf dem höchsten Punkt des Montmartre groß wurde; seine amerikanische Großtante hieß Aline und sein Lieblingsonkel Henri; er war Pfadfinder und schon als Kind vernascht; in seiner Neigung zur Korpulenz vergleicht er sich mit Thomas von Aquin und Platon; sein Lieblingsmaler ist Vermeer, und seine Ferien verbrachte er regelmäßig in einem Dorf in der Normandie; er war stets ein schlechter Autofahrer, dafür aber ein Hobbymaler und leidenschaftlicher Kinogänger, den ausgerechnet die Hollywoodverfilmung von Walter Scotts Roman «Ivanhoe- Der schwarze Ritter» zum Mediävisten machte. - Trotzdem (oder vielleicht gerade wegen dieser nahezu provokanten Unterhaltsamkeit) ein wunderbar erhellendes Buch.


Alle unsere Farben. Eine schillernde Kulturgeschichte
Autor: Michel Pastoureau
Übersetzer: Andreas Jandl
Verlag Klaus Wagenbach
Berlin 2023
Maße: 21,5 cm x 13,5 cm
Softcover - Sachbuch
ISBN: 9783803137258
Preis: 24,00 €

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