Buchrezensionen

Émile Prisse d’Avennes: Ägyptische Kunst – Art égyptien – Egyptian Art. The complete plates, Taschen Verlag 2014

1878/79 und damit ganz am Ende seines Lebens ließ der französische Reisende Émile Prisse d’Avennes seine Geschichte der ägyptischen Kunst erscheinen, die im vergangenen Jahr in einer Prachtausgabe vom Taschen Verlag neu herausgegeben worden ist. Das wunderbare Buch kann die Faszination verständlich machen, die seit gut zweihundert Jahren von der ägyptischen Kunst ausgeht. Stefan Diebitz hat sich in das Riesenwerk vertieft.

Das beeindruckende Format des Buches lässt andere Wälzer klein erscheinen. © Foto: Stefan Diebitz Émile Prisse d’Avennes: Tempel von Abu Simbel. © Taschen Verlag Émile Prisse d’Avennes: Deckenverzierungen aus Memphis und Theben mit Sternenhimmel und Geiern sowie mit Gänsen. © Taschen Verlag Émile Prisse d’Avennes: Androsphinx und Crioshpinx (Amenophis III., 18. Dynastie) © Taschen Verlag
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Wohl jeder hat ganz bestimmte Vorstellungen, wenn er von ägyptischer Kunst hört: Wenn Menschen dargestellt werden, dann sind die Köpfe immer im Profil gehalten, wogegen der Oberkörper fast von vorne gezeigt wird, als stünde man diesen Figuren gegenüber. Oder man sieht bildhafte und trotzdem unverständliche Hieroglyphen vor sich, die sich dekorativ zwischen geraden Linien aneinanderreihen. Die Bilder sind eigentlich immer in klaren, oft leuchtenden Farben gehalten, und alle Figuren und Gegenstände sind scharf umrissen. So ist es keine malerische Kunst – ihr fehlt nicht allein die Luftperspektive, sondern wirklich jede Perspektive. Das Bedeutende ist groß, das Unbedeutende klein – wie bei Kinderzeichnungen. Dieser Charakter der ägyptischen Malerei mag teils ein Resultat der durchsichtigen Wüstenluft sein, vielleicht aber auch, wie immer wieder zu lesen ist, eine Folge der ägyptischen Infantilität, und unterscheidet sie auf jeden Fall deutlich von europäischer Kunst – besonders von jener, die Europa beherrschte, als dieses Buch erstmals herauskam.

Das große Werk (und groß ist eigentlich noch eine Untertreibung bei dem unglaublichen Format des Buches) zeigt nicht allein die Wandmalereien der Gräber oder die Statuen der Tempel, sondern auch eine Menge Alltagsgegenstände und zumindest gelegentlich auch solche Überreste, die man zu Zeiten des Autors noch nicht einordnen konnte. So finden sich bunte Kacheln, Deckenverzierungen und Blumenfriese, sauber gezeichnete Pylonen oder eine Zusammenstellung typischer Verzierungen; es gibt topografische Karten der Nekropolen zu Memphis, Tell El-Amarna oder Theben und akkurate Zeichnungen von Sarkophagen; auch finden sich die Pyramide von Gizeh und der Obelisk, der heute auf dem Place de Concorde in Paris steht. In aller Breite und bunten Vielfalt wird auch das oft delikate Kunsthandwerk vorgestellt.

Viele Blätter sind so farbenfreudig wie die ägyptische Kunst selbst, aber ungefähr zur Hälfte finden sich auch nichtkolorierte Zeichnungen, die der Leser angesichts ihrer durchweg sehr hohen Qualität immer mehr zu schätzen weiß. Zu jedem Blatt gibt es eine sachliche Erläuterung. Dem Vorwort kann man entnehmen, dass Prisse 1860 nach langen Jahren in Ägypten mit insgesamt »300 bis zu sieben oder acht Meter langen Folio-Zeichnungen von Malereien oder Reliefs« nach Frankreich zurückkehrte, die den Grundstock dieses Werkes bildeten. Dazu kamen dann noch andere Zeichnungen und auch Fotos, auf die er ebenfalls zurückgriff. Bei diesem fantastischen Ausgangsmaterial ist es vielleicht nicht verkehrt, den Folianten trotz seines Umfanges und Gewichts die Essenz eines langen und produktiven Lebens zu nennen.

Denn wer das erste Mal dieses Buch in die Hand nimmt, wird wohl nach den Namen der verschiedenen Künstler suchen, aber es gibt diese Namen nicht, weil alles von Prisse d’Avennes allein gezeichnet und gemalt wurde. Besonders bei den Architekturabbildungen kann man sehen, dass er als junger Mensch eine Kunstakademie besucht hat, denn seine Zeichnungen sind außerordentlich gelungen: ebenso stimmungsvoll wie akkurat und informativ. Vielleicht ist es auch so, dass ein Zeichenstift vieles besser wiedergeben kann, als es selbst zu unseren Zeiten eine hochwertige Kamera könnte, denn der Stift kann Einzelheiten vorsichtig hervorheben und ein nahsichtiges Panorama wiedergeben, ohne dass der Betrachter die Verzerrungen der Weitwinkellinse in Kauf nehmen muss.

Man kommt an kein Ende, wenn man die Gegenstände aufzählt, die sich in diesem Buch abgebildet finden, und sollte deshalb das erwähnen, was nirgendwo erscheint. Und das ist in der Hauptsache der für Ägypten so typische, von Götterstatuen oder Tierplastiken flankierte Weg in den Tempelanlagen. Als einzige Ausnahme findet sich eine Aneinanderreihung von Widdern im Tempel von Karnak, aber dieser Weg erscheint auf der Zeichnung eher als ein langgestreckter Platz und gehört zu den weniger gelungenen Zeichnungen. Es ist wohl der einzige Mangel des Buches.

Die große Bedeutung des Weges für die ägyptische Kultur, für den Prisse offenbar der Sinn fehlte, hob besonders Oswald Spengler im »Untergang des Abendlandes« hervor. Für ihn war der Weg das »Ursymbol« des alten Ägypten, aber vielleicht scheint das nur deshalb so, weil der Weg doch immer ein wesentlicher Aspekt des religiösen Lebens ist und wir, wenn wir auf Ägypten schauen, so unendlich viele Tempel vor Augen haben.

Für Ernst Bloch, der in »Geist der Utopie« (also zur exakt selben Zeit wie Spengler) über Ägypten schrieb, ist dieses Land eine Art Totenreich, und er beschreibt es mit Vokabeln wie »lebensverneinend, geradlinig, kubisch, mit einem ungeheuren Fanatismus der Starre.« Aber eben das entdeckt man gar nicht und schon gar nicht überall, wenn man dieses Buch durchblättert, sondern sehr viele Abbildungen sind dem Leben und seinen Genüssen zugewandt – wahrscheinlich sogar deutlich mehr, als sich das manch sittenstrenger Leser des 19. Jahrhunderts gewünscht haben mag. So kann man auf einer Zeichnung, die aus der Nekropole von Theben stammt, zierliche Tänzerinnen in durchscheinenden Gewändern sehen und sich über die Anmut ihrer Bewegungen freuen: starr, gar totenstarr ist hier überhaupt nichts. Erotisch oder lasziv übrigens auch nicht; es wirkt einfach heiter. Das gilt auch durchgängig für alles Dekorative (und dekorativ ist ja fast alles in der ägyptischen Kunst), und so ist es ja wohl auch kein Zufall, dass sich die Designer von Badezimmerkacheln oder anderem Schmuck bereits im 19. Jahrhundert und danach immer wieder reichlich aus dem Vorrat der ägyptischen Kunst bedient haben. Wahrscheinlich hat auch dieses Buch als Vorlage gedient.

Das Buch wird eingeleitet von einem Essay der pakistanischen Ägyptologin Salima Ikram, der nicht allein in französischer, englischer und deutscher Sprache das abenteuerliche Leben des Autors vorstellt, sondern das große Werk zusätzlich in die Entdeckungsgeschichte Ägyptens einordnet. Ikram bewundert den Autor ganz offen, und man kann das auch verstehen – wann hätte denn jemand fast ganz allein ein derart umfangreiches Werk geschaffen, das sowohl künstlerischen als auch wissenschaftlichen Ansprüchen genügt? Denn die offenbar sehr getreuen Abbildungen aus der Hand von Prisse konnten immer wieder auch von Ägyptologen benutzt werden – und nicht allein für die Illustration ihrer eigenen Bücher, sondern auch, um den Bestand oder auch Verlust festzustellen.

Die Bedeutung von Prisse zeigt sich unter anderem daran, dass er als erster das ägyptische Gittersystem entdeckte und beschrieb, dessen Vorzeichnungen man auch in diesem Buch bewundern kann. »Seit ältester Zeit«, schreibt Prisse selbst in den Erläuterungen, »hatten die ägyptischen Künstler einen kanonischen Maßstab für die Proportionen des menschlichen Körpers. Die ältesten Denkmäler […] weisen in ihren unvollendeten Bereichen Skizzen auf, an denen schnurgerade, mit Rötel oder rotem Ocker gezeichnete Netzraster für die Proportionen auffallen. Der älteste Proportionenkanon untergliederte den menschlichen Körper vom Scheitel bis zur Sohle in 19 Teile.« Es klingt sehr unwahrscheinlich, aber es scheint, dass dieses System tatsächlich über eine fast unendlich lange Zeit, nämlich von der 5. bis zur 26. Dynastie, beibehalten wurde.

Die wortmächtigste und überzeugendste Schilderung der ägyptischen Kunst habe ich in Egon Friedells »Kulturgeschichte Ägyptens« gefunden, wo er zur Malerei bemerkt, dass es in ihr »miserable Leistungen überhaupt nicht gibt: der Künstler brauchte ja nur die obligaten Formen auswendig zu lernen, um sich vor groben Patzereien zu bewahren.« Das könnte sehr gut auf das Gittersystem gemünzt sein, das Prisse auf zwei Doppelseiten erläutert und illustriert, und überhaupt findet man Friedells ebenso inspirierte wie temperamentvolle Beschreibung der ägyptischen Kunst auf jeder Seite dieses außerordentlich schönen Buches bestätigt.

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