Welches Bild wir heute vom Orient haben, ist uns oft selbst nicht ganz klar, aber immer wieder entdecken wir da Minarette, schöne Haremsdamen, märchenhafte Gärten – und Sindbad der Seefahrer ist vielleicht auch noch dabei. In Konstanz widmete sich eine Ausstellung diesem spannenden Thema: Wie bildet sich dieser Orient im fotografischen Blick westlicher Besucher ab? Der ihr zugehörende Katalog hat noch einiges mehr zu bieten. Walter Kayser hat ihn gelesen.
Angesichts der drohenden Zerstörung antiker Stätten durch den »IS«, angesichts der überfüllten Flüchtlingsboote, die sich verzweifelt von den Küsten Nordafrikas über das Mittelmeer aufmachen, ist in diesen Tagen erneut zu fragen: Wie weit entfernt ist für uns eigentlich der Nahe Osten? Und wie ist das Verhältnis der arabischen Welt eigentlich zu der eigenen, vorislamischen Kultur, etwa der des pharaonischen Ägypten? Oder mit anderen Worten: Hätte es eine »Ägyptologie« auch ohne Europa gegeben? Und umgekehrt: Was trug die Alteritätserfahrung des Orients geografisch, politisch zur kulturellen Identität unseres Kontinents bei, der, obgleich stets der »alte« genannt und Ausgangspunkt aller kolonialen und imperialistischen Tendenzen, immer widersprüchlich, in seiner Vielfalt zerrissen und keineswegs klar definiert gewesen ist.
Orient und Okzident bieten sich schon seit den Tagen Karls des Großen oder der Kreuzzüge als polar abgegrenzte Kulturkreise an. Sie sind es aber tatsächlich so nie gewesen. Sie haben sich gegenseitig bereichert und durchdrungen. Die Welt des Morgenlandes war immer auch eine Projektionsfläche für märchenhafte Wunschbilder; und sie war schon immer ein Reich, das aus Bildern aufgebaut war. Die Fremderfahrung, dieser despektierliche Blick auf das Andere aus der Position der Mächtigen muss also stets neu als Imagination dekonstruiert werden.
Da ist es von besonderem Reiz, dass die Entdeckung des Orients, der Beginn der Ägyptologie als wissenschaftlicher Disziplin im Gefolge Napoleons und eines Champollion, einhergeht mit dem Siegszug eines neuen Mediums: der Fotografie. Denn als der französische Physiker François Arago im Jahre 1839 die »Daguerreotypie« der Akademie der Wissenschaften und Künste als neue Entdeckung vorstellte, bezog er sich ausdrücklich auf die ungeahnten Möglichkeiten, welche die Fotografie als Dokumentationsmethode bei der Entzifferung der Hieroglyphen gehabt hätte. Nur vier Jahre zuvor hatte man in Marseille eine regelmäßige Fährverbindung nach Alexandria aufgenommen, das auch zum Ausgangspunkt der traditionellen »Nile-Cruises« wurde. Erreichten dann die europäischen Touristen »ihren« Orient, dann fragten sie nach Souvenirs, die ihre Vorstellungen und exotischen Fantasien bestätigten.
Die Herausgeber dieses Katalogs und Kuratoren der Ausstellung, der Schweizer Kunstgeschichtler Felix Thürlemann und der Germanist Bernd Stiegler, beide Professoren an der Universität Konstanz, arbeiten nicht zum ersten Mal auf diesem Gebiet zusammen. Wenn auch vergleichbare Ausstellungen in den letzten Jahren zu sehen waren, so ist das Ergebnis doch bestechend. Insbesondere Bernd Stiegler ist weit und breit einer der profundesten Kenner, Theoretiker und leidenschaftlichen Sammler auf dem Gebiet der Fotografie. Schon als Lektor des Suhrkamp-Verlages hat er das durch wegweisende Schriften unter Beweis gestellt. Deshalb sind die Einführungstexte zu den verschiedenen Kapiteln so kompetent wie konzis.
Fotografieren hieß insbesondere in Ägypten kulturelle Aneignung, und entsprechend ist die Zahl der im 19. Jahrhundert entstandenen Lichtbilder Legion. Dabei verschieben sich die Funktionen dieser ideologischen Landnahme: Zunächst steht die systematische Dokumentation von Denkmälern im Interesse der Archäologie im Vordergrund, später auch die touristische Bedienung von vorgefassten Erwartungsbildern. Pittoreske Maskerade, inszenierte Klischees vom sorglosen Leben in Armut und Anmut bei ewigem Sonnenschein. Wenn die Bilder das enthüllen, was sich den Blicken durch Schleier und die Maschrabiyyen-Holzgitter zu entziehen versucht, dann folgen sie den lasziv sich rekelnden Odalisken, die bereits auf den Gemälden eines Ingres oder Delacroix zu sehen waren. Die Fotos wiederum finden ihre parallele Fortschreibung in den vielen (auch deutschen) »Orientalisten«, die mit ihren Gemälden mehr oder weniger schwülstig-symbolistisch die Geheimnisse von 1001 Nächten zu lüften versprachen.
Auch die Orientfotografie pendelt zwischen ethnografischer Expedition und exotischen Phantasmagorien. Dass sie in Europa zumeist in exklusiven Mappen oder Alben aufwändig publiziert werden konnte und ihre Käufer fanden, lag auch daran, dass keineswegs klar umrissen war, wo dieser Orient anfing und wo er aufhörte. Zunächst wurde Ägypten mit seinen Pyramiden, den malerisch ruinösen Tempeln, seinen Kolossalskulpturen in einem klar umrissenen motivischen Kanon erschlossen. Bald folgten Konstantinopel und die anderen nordafrikanischen Länder, schließlich die gesamte Levante, also Palästina und den Libanon, die im 19. Jahrhundert noch zum »sterbenden« Osmanischen Reich gehörten. Sie alle bildeten den romantisierten Kontrast zur beginnenden Hochindustrialisierung. Insbesondere wollten die Europäer auch die ihnen aus der Bibel vertrauten Stätten ihres christlichen Glaubens durch das Medium der Fotografie »beglaubigt« sehen. Die Kamera wurde zum Augenzeugen des heiligen Grundes, auf dem Jesus wandelte, Wunder tat und starb. Damit die Orte von historischer oder kultureller Bedeutung malerischer wirkten, machte es sich gut, wenn Einheimische die Aufnahme hier und da belebten. So gaben sie einen Maßstab her, um die Panoramaansichten, alte Stadttore, gigantische Monumente und Säulen noch wirkungsvoller erscheinen zu lassen.
Die Pioniere der Orientfotografie waren ausschließlich Europäer, etwa der Engländer Francis Frith, der zwischen 1856 und 1859 drei Reisen nach Ägypten unternahm und mit den Mittel des neuen Mediums die berühmte »Description de l’Égypte« der napoleonischen Expedition aus den Jahren 1798–1801 fortschrieb. In der zweiten Genera¬tion waren daneben auch Griechen wie die Brüder Zangaki oder Armenier wie G. Lékégian und die Abdullah Frères beteiligt, die schon häufig die gewünschten Bilder in die Innenräume ihrer Kairener Ateliers verlegten. Sie verkleideten die Landesbewohner (wie auch die Fremden) und lieferten so einen pittoresken Reigen aller Berufsgruppen, ähnlich wie es später etwa der Kölner August Sander in seinem Epoche machenden »Menschen des 20. Jahrhunderts« unternahm. Auf diese Weise verlegte auch der Münchner Mathias Pössenbacher seinen Orient in den 1870er Jahren in die Schwabinger Amalienstraße. Dabei durfte es nie an den stereotypen Requisiten im nachgestellten Ambiente fehlen, - allem voran die Codes von Schleier und Turban, Wasserpfeife und Krug, Esel und obligates Kamel unter Palme.
Ein Fotograf musste um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch mit großem Aufwand und Gepäck unterwegs sein: die Negativplatten entsprachen im Format exakt dem des endgültigen Abzugs; wegen der langen Belichtungszeiten mussten verschieden große Kameras zur Hand sein und außerdem konnte die gesamte Labortentwicklung nur vor Ort erledigt werden. Das änderte sich um die Jahrhundertwendemit einem Schlag. Mit der Erfindung der modernen Rollfilm-Kamera (»You press the button, we do the rest«) und der Möglichkeit, den Versand von Ansichtskarten per Post in die Heimat als Tourist zu erledigen, ging der Niedergang der Ateliers einher. Die heute noch in der Kairener Innenstadt mit einer markanten Buchhandlung vertretene Niederlassung von Lehnert& Landrock bediente mit Aktfotos von halbwüchsigen Jungen und Mädchen den despektierlichen Zeitgeschmack Europas. Heute würde man da von päderastischen Softpornos sprechen können. Hier wird die Kamera »in der Hand der westlichen Fotografen zum Machtinstrument, das die Orientalin zum Sinnbild des unterworfenen Morgenlandes macht« (174). Die Frage bleibt: Welche Bilder von Europa hat die arabische Welt, welche haben wir von ihr?