Zu den faszinierendsten Themen in Rembrandts Werk gehören seine Landschaftszeichnungen. Auf seinen Streifzügen durch Amsterdam hielt er Viertel, Kanäle, Häuser am Stadtwall, die Bollwerke mit ihren malerischen Windmühlen oder einzelne markante Gebäude fest. In manchen Zeichnungen kommen innere Vorstellungen zum Ausdruck, dann wieder sucht der Künstler, mit großer Detailtreue den Reichtum und die Schönheit der Naturformen einzufangen, späte Blätter lösen sich sogar in einer von Licht und Luft durchtränkten Atmosphäre auf. Etwa 100 Landschaftszeichnungen waren dem niederländischen Meister bis dato zugeschrieben. Achim Gnann – Kurator für italienische Kunst an der Albertina Wien – hat die Zahl nun auf 260 erhöht. Andreas Maurer hat ihn zum Gespräch getroffen.
Andreas Maurer (AM): Rembrandt Harmenszoon van Rijn (1606–1669) zählt zu den bekanntesten Künstlern der Welt. Unzählige Publikationen widmen sich seinen Gemälden und Zeichnungen. Sie schreiben dem niederländischen Genie nun 160 Zeichnungen zusätzlich zu. Wie geht man dabei vor?
Achim Gnann (AG): Ich ziehe dabei Vergleiche zu gesicherten Gemälden, Radierungen, aber auch zu gesicherten Zeichnungen von Rembrandt. Ich habe auch versucht, die Chronologie der Landschaftszeichnung zu erarbeiten und dadurch den Entwicklungsgang von Rembrandt als Zeichner nachzuvollziehen. Nicht nur wie er sich stilistisch der Landschaft nähert, sondern eben auch hinsichtlich der Themenbereiche. Er hat zum Beispiel oft ein und dasselbe Motiv aus ganz verschiedenen Blickwinkeln gezeichnet, dabei auch unterschiedliche Materialien verwendet, um demselben Motiv jeweils eine andere Wirkung zu geben. Als Resultat stehen daher – meines Erachtens – auch mehr seiner Zeichnungen tatsächlich mit den Radierungen in Beziehung.
AM: Landschaft wird gerne mit Natur gleichgesetzt. In Ihrem Buch sind aber auch Stadtansichten zu sehen. Wo beginnt der Landschafts–Ausschnitt, wo endet er?
AG: Eine gänzlich »reine« Landschaft gibt es bei Rembrandt eigentlich nicht. In der Regel sind immer auch einzelne Bauernhäuser, eine Brücke oder eine menschliche Figur mit abgebildet.
Rembrandt ist zudem sehr viel in und um Amsterdam spaziert, hat Landschaften vom Stadtwall bzw. von den Bollwerken aus gezeichnet, die dann einen Teil der topografischen Situation von Amsterdam wiedergeben. Insofern wäre es sicher eine Reduktion gewesen, wenn man jetzt die Ansicht eines Stadtviertels von einer landschaftlichen Darstellung vollkommen trennen würde. Es ist auch so, dass Rembrandt bisweilen ein und dasselbe Bauernhaus das eine Mal mit umgebender Landschaft, das andere Mal ohne gezeichnet hat. Natürlich müssen beide in diesem Kontext besprochen werden. Rein landschaftliche und topografische Ansichten gehen zudem fließend ineinander über. Im Vordergrund steht für Rembrandt dabei nicht das Repräsentative, sondern eher das Intime, das Einfache, das Besondere. Eine heroische Überhöhung der Landschaft liegt ihm in den Zeichnungen fern.
AM: Abgesehen von der Motivwahl fällt vor allem Rembrandts spontaner zeichnerischer Zugang auf, welcher der Landschaft eine unglaubliche Lebendigkeit verleiht...
AG: ...und dann diese unglaubliche Beobachtungsgabe! Nicht, dass er jedes Detail wiedergibt, aber dass er wirklich genau sieht, wie sich Strukturen von Häusern oder die Verästelung einer Baumkrone verhalten. Für Rembrandt ist zudem der atmosphärische Umraum wesentlich. In seinen Zeichnungen herrscht immer eine ganz bestimmte Stimmung vor, die er einzufangen weiß – einmal bläst der Wind, dann herrscht wieder drückende Hitze. Diese unmittelbare Stimmung wirkt sich auf das ganze Motiv aus. Es sind also vom Gefühl her erfasste Landschaften. Alles Konstruierte, was die vorangehende Landschaftskunst so häufig auszeichnet, wo mit Versatzstücken gearbeitet und bewusst ein Landschafts–Pathos entwickelt wurde, ist Rembrandt völlig fremd.
AM: Anfang des 17. Jahrhunderts weisen die Niederlande den höchsten Urbanisierungsgrad Europas auf, etwa 50% der Menschen leben in Städten. Fast könnte man meinen, dass Rembrandt mit seiner Hinwendung zu Bauernhäusern, Windmühlen und Landschaften versucht ein »typisch« niederländisches Landschafts–Bild festzuhalten und Zivilisationskritik betreibt.
AG: Als bewusste Auflehnung würde ich das nicht sehen. Bei seinen Zeichnungen finden sich ebenso Studien belebter Stadtviertel, bei denen Rembrandt sichtlich von der urbanen Situation fasziniert ist, wie einsame Bauerngehöfte in der weiten Umgebung. Es gibt zwar schon in den 1630er Jahren einzelne Studien, aber die Hauptbeschäftigung mit der Landschaft findet zwischen 1640 und 1655 satt, Anschließend findet sich das Thema nicht mehr auf seinen Zeichnungen. In seinen Gemälden sind die Landschaften anders gestaltet, sie sind stärker komponiert und oftmals aus der Vogelschau betrachtet. Für diese Landschaften gibt es eigentlich kaum Vorzeichnungen. Also man muss sich wirklich vorstellen, dass er mit dem Skizzenbuch in der Hand die Natur erwandert und sich vom Motiv jedes Mal neu inspirieren lässt. Ich denke, dass es für ihn eine ganz private Auseinandersetzung war, ein ureigenes künstlerisches Interesse. Die Zeichnungen waren weder für den Verkauf vorgesehen noch fungierten sie als konkrete Vorbereitung für Gemälde. Allerdings wurden doch sehr viele Motive dann auch in Radierungen ausgewertet.
AM: Wie eingangs erwähnt: Etwa 100 Landschaftszeichnungen werden in der aktuellen Forschungsliteratur als Originale des niederländischen Barockkünstlers bestätigt. Sie haben ihm nun 160 weitere Blätter zugeschrieben. Geht es so einfach?
AG: Seit den 1980er Jahren hat eigentlich so eine Art Kahlschlag eingesetzt, die in dem Benesch–Korpus [Anm.: Otto Benesch, ehemaliger Direktor der Albertina Wien hat 1954–57 ein sechsbändiges Standardwerk zu Rembrandts Zeichnungen publiziert] aufgeführten Zeichnungen wurden sukzessive reduziert. Von den dort ca. 1600 Zeichnungen gelten heute nur noch ungefähr 700 als eigenhändig. Darüber hinaus ist ein zehnbändiges Werk (1978–92) der Rembrandt–Schüler von Werner Sumowsky herausgekommen. Da hat man gesehen, dass viele Schüler im Stil von Rembrandt gezeichnet haben. Und bei Benesch war es eben meines Erachtens so, dass die Chronologie oft nicht ganz gestimmt hat. Bei Benesch sind teilweise Zeichnungen zusammen abgebildet, von denen ich heute sagen würde, dass zwischen ihnen 10–15 Jahre liegen. Aufgrund des zeitlichen Abstands ergeben sich natürlich offensichtliche Unterschiede zwischen diesen Zeichnungen, was dazu geführt hat, dass man sie Rembrandt abgeschrieben und einem seiner Schüler oder Nachfolger zugeschrieben hat. Zu deren Arbeiten passen sie aber nicht, wie ich in dem Buch versuche, detailliert nachzuweisen. Ist erst einmal ein Blatt aus dem Rembrandt–Zeichnungskomplex herausgelöst, so finden sich gleich andere, die ähnlich sind und dann ebenfalls abgeschrieben werden. Wenn man diese Blätter aber zeitlich richtig einordnet, so lassen sie sich schlüssig in das Werk Rembrandts eingliedern.
AM: Warum passen diese Zeichnungen nicht das Werk der Schüler des Niederländischen Meisters?
AG: Rembrandts Schüler hatten nicht dieselbe Beobachtungsgabe und das Vermögen, die Motive in das Landschaftliche und ins Atmosphärische einzubetten. Ihnen fehlte die Schärfe des Sehens und dieses fühlende Erfassen von Landschaft wie es so charakteristisch für Rembrandt ist. Nur selten hat man das Gefühl, dass ihre Zeichnungen direkt vor Ort entstanden sind und die Stimmung einer besonderen Wettersituation wiedergeben ist. Sie weisen auch nicht die Spannung im Kompositionellen und die Spontaneität in der Linienführung auf, mit der es Rembrandt gelingt, Wesentliches mit knappsten Mitten zum Ausdruck zu bringen. Rembrandts Landschaften halten nicht nur einen konkreten Ort fest, sie haben immer auch etwas Allgemeingültiges, bringen einen universellen Aspekt der Natur zum Ausdruck. Die Schüler übernehmen einige formale Mittel, ohne aber diese tiefe Durchdringung von Rembrandt verstehen zu können.
Ich denke, wenn man die Zeichnungen chronologisch ordnet und nachweist, dass die gleichen Gestaltungsprinzipien wie bei Rembrandt vorliegen, es dann auch gelingt, sie wieder überzeugend in sein Werk einzgliedern. Ich bin schon gespannt, ob sich meine Forschungsergebnisse, die jene von Otto Benesch zu rehabilitieren suchen, durchsetzen werden oder ob man sie als Irrweg eines Italien–Kurators ansieht, über den man lieber schweigen sollte. Mein Wunsch ist natürlich, dass man bei den Zeichnungen Rembrandts dieses sehr restriktive Bild überdenkt.
AM: Das Spannende: In der chronologischen Ordnung der Blätter zeigt sich, dass sich Rembrandts Auffassung von Landschaft im Laufe der Jahre ändert. Anfangs scheinen die Zeichnungen noch stark aus der Empfindung heraus konzipiert...
AG: ...und dann »entdeckt« er sozusagen die Stadt mit ihren Vierteln, den Grachten, dem Stadtwall mit seinen Bollwerken. Gegen 1650 interessiert ihn dann besonders die Wiedergabe des Landschaftlichen in all seinen Details, der Künstler widmet sich etwa einzelnen Blättern eines Baumes mit fast akribischer Sorgfalt. Dann, in seinen späten Arbeiten, gilt seine Aufmerksamkeit der Wiedergabe des Atmosphärischen, alle Einzelheiten sind nun von Licht und Luft umhüllt. Die Bildelemente gewinnen durch dieses stimmungshafte Sehen eine eigene körperliche Präsenz. Die Landschaft erhält dadurch einen starken Stimmungsgehalt, ihr Anblick wird zum Erlebnis. In einigen Blättern kommt Rembrandt dabei zu einem gänzlichen Auflösen, einer Abstraktion der Naturformen, die er mit wässriger Lavierung nur noch mit dem Pinsel festhält. Über das Erfassen eines bestimmten Motivs bei einer besonderen Wetterlage hinaus geben Rembrandts Zeichnungen etwas Genuines der niederländischen Landschaft wieder. Es sind keine Zeugnisse aus einer längst vergangenen Zeit, vielmehr blicken wir auf die Landschaft mit Rembrandts Augen. Sie sind zeitlos und zugleich ungewöhnlich aktuell.
Titel: Rembrandt – Landschaftszeichnungen / Landscape Drawings
Autor: Achim Gnann
Verlag: Michael Imhof Verlag / Veröffentlichung der Albertina – Band 49
Studien zur internationalen Architektur– und Kunstgeschichte 184
Hardcover 24 × 30 cm, 368 Seiten, 311 Farb–Abbildungen
deutsch/englisch
ISBN: 978–3–7319–0962–0
Zum Autor:
Dr. Achim Gnann
Kurator für italienische Kunst an der Albertina Wien
Universitätsdozent am Institut für Kunstgeschichte an der Universität Wien