Rezensionen

Annie Leibovitz. Taschen Verlag

Als Benedikt Taschen die bedeutendste Porträtfotografin der Gegenwart, Annie Leibovitz, bat, ihre Bilder in einem Buch im SUMO-Format zu sammeln, war sie von der Herausforderung fasziniert. Die Entwicklung des Projekts dauerte mehrere Jahre, und als es schließlich 2014 veröffentlicht wurde, wog es 26 Kilogramm. Der begehrte SUMO Annie Leibovitz ist nun in einer unlimitierten XXL-Ausgabe erhältlich. Verena Paul hat die schwergewichtige Monumentalausgabe gelesen.

Cover © Taschen Verlag, Foto: Annie Leibovitz
Cover © Taschen Verlag, Foto: Annie Leibovitz

Der Taschen Verlag hat 2022 die großformatige SUMO-Version mit den Werken der amerikanischen Fotografin Annie Leibovitz in eine kleinere Variante verwandelt. Doch es sei vorweggenommen, eine Bettlektüre ist das verschlankte Buch noch lange nicht. Mit 556 Seiten und fast sechs Kilogramm papierner Schwere ist dieses Werk ein faszinierendes Erkundungs- und Entdeckungsbuch, das keiner Chronologie folgt, aber spannende Verbindungslinien im 40-jährigen Schaffen der Fotografin aufzeigt. Leibovitz selbst erschien das SUMO-Buch „wie eine Installation“, „eine skulpturale Arbeit“. Kein Mensch, so sagt sie, „würde mit dem Buch auf dem Schoß dasitzen und es Seite für Seite durchblättern“. Und so durchstöbert man auch die kleinere Version, vertieft sich in Aufnahmen, die mächtige, einflussreiche Menschen aus Politik oder Kultur in Szene setzen, wobei „Rollenspiel“ und „Performance“ stets den roten Faden des Bandes bilden. Texte von Steve Martin, Graydon Carter, Paul Roth und Hans Ulrich Obrist, der mit Annie Leibovitz ein Interview führte, sowie eine Kurzbiografie bringen uns darüber hinaus die Künstlerin als Mensch näher.

„Wenn Charles Dickens, Jane Austen und Henry James die scharfsinnigsten Chronisten ihrer Zeit waren, so hat Annie zweifellos das klarste visuelle Porträt unserer Zeit geschaffen“, schreibt der ehemalige Herausgeber von Vanity Fair Graydon Carter in seinem Beitrag. Annie Leibovitz habe „die frechen Könige des Rock ‘n‘ Roll für den Rolling Stone“ eingefangen und für Vanity Fair „die vermögenden Neureichen der hippen 1980er und die Autokraten des digitalen Zeitalters in den 1990ern“. Mit ihrem konzeptionellen, theatralischen Stil setzt Annie Leibovitz in ihren Aufnahmen Musiker, Schriftsteller, Künstler, Regisseure, Schauspieler sowie Sportler, Politiker und Models in einen Kontext, der mit den Porträtierten interagiert, ihre Persönlichkeit und ihr Wirken in der Fotografie lebendig werden lässt. So verschmilzt beispielsweise der amerikanische Pop-Art-Künstler Keith Haring in der für ihn so typischen Flächigkeit einer von klaren Lineamenten geprägten Malerei. Sein mit schwarzen Strichfolgen bemalter Körper verwandelt sich ebenso in Fläche wie das Interieur des Wohnzimmers, in dem er posiert.

Ellen DeGeneres, Kauai, Hawaii, 1997, Foto: Annie Leibovitz
Ellen DeGeneres, Kauai, Hawaii, 1997, Foto: Annie Leibovitz


Kontinuierlich überschreitet Leibovitz, die sich von Grandseigneurs der Fotografie wie Robert Frank oder Henri Cartier-Bresson fasziniert zeigt, die traditionellen Grenzen zwischen kommerzieller und künstlerischer Fotografie. Dergestalt finden sich ihre Arbeiten ebenso in der Werbung wie in Kunstgalerien wieder. Und der Erfolg gibt Annie Leibovitz Recht, denn die Liste der Würdigungen (u.a. „Living Legend“, Library of Congress in Washington) und Auszeichnungen, die ihr bereits zuteil wurden, ist beeindruckend und lang. Beeindruckender jedoch ist und bleibt die Betrachtung der fotografischen Werke selbst, die oft an fotorealistische Gemälde erinnern. Und das erstaunt nicht, betätigte sich Leibovitz doch in der Tat zunächst malend, bevor sie die Fotografie als ihren Zugang zur Welt entdeckte. „Das Malen kapselte mich ab. Die Fotografie führte mich raus in die Welt und brachte mich unter Leute“, erklärt sie im Interview mit Hans Ulrich Obrist.

Das Studio ist infolgedessen nicht ihr „Lieblingsort“ geworden, obgleich sie auch hier ihr Können unter Beweis zu stellen vermag. Schon früh war die Kamera für Annie Leibovitz „ein soziales Wesen“, ein „Freund“, mit dem gemeinsam sie die Welt betrachten konnte. Es entstehen Porträtfotografien in Landschaften ebenso wie reine Landschaftsaufnahmen. Auf der Suche nach Orten für Porträts reizten sie schließlich die menschenleeren Orte zusehends mehr. Auch wenn sich die Porträtierten wie die Tänzerin, Choreografin und Tanzpädagogin Pina Bausch in die Landschaft einfügen, so bleibt doch ein Rest Irritation in der Fotografie, der verschwindet, wenn sich die Kamera auf den natürlichen Kontext fokussiert, etwa das Lichtspiel der bewegten Wasseroberfläche des Flusses Ouse – in dem Virginia Woolf den Freitod wählte.

Foto: Annie Leibovitz
Foto: Annie Leibovitz

Damit wird zugleich der Bogen zu Aufnahmen von Stillleben geschlagen, in die sich die Menschen indirekt eingeschrieben haben, also selbst nicht zu sehen sind. Für Annie Leibovitz stellen auch diese Fotografien Porträts dar. „Die Menschen existieren nicht mehr, doch ihre Anwesenheit wirkt nach“, wie etwa die amerikanische Autorin Emily Dickinson in ihrem Herbarium, in das die Fotografin mit ihrer Kamera hineinblickt und Relikte einer fein säuberlich eingeklebten Pflanze fixiert. Oder der Schreibtisch von Virginia Woolf, dessen Schreibplatte frontal aufgenommen, von zahlreichen Tintenflecken überzogen ist. Dieser Schreibtisch, so Leibovitz, „sagt etwas über Kunst aus. Kunst ist chaotisch. Und sie ist sehr hart.“

Neben fraglos ausgefallenen Aufnahmen von Stars wie Lady Gaga in voluminösem rotem Kostüm oder ästhetisch wunderschönen Porträts wie dem der serbischen Performance-Künstlerin Marina Abramović, bestechen auch und vor allem die Fotografien, die den Porträtierten ganz nah kommen. Ein Beispiel bildet die Aufnahme von Susan Sontag, mit der Annie Leibovitz viele Jahre liiert war. Das Schwarz-Weiß-Foto, dessen Hintergrund verschwommen ist, erfasst die nachdenkliche Tiefe der großen amerikanischen Intellektuellen. Auch bei der Aufnahme der französisch-US-amerikanische Künstlerin Louise Bourgeois erfasst Annie Leibovitz jene Tiefe: Bourgeois‘ Kopf und Schultern im Seitenprofil, die rechte Hand öffnet sich zum Betrachter und ist ebenso wie das Gesicht mit dem geschlossenen Auge von vielen kleinen Fältchen überzogen, die die Porträtierte so wunderschön machen. Die Hand erscheint lauernd, und kraftvoll sprungbereit wie eine Spinne, die zentrales Motiv im Schaffen der Künstlerin ist. Zerbrechlichkeit und Stärke, Zögern und Handeln, es liegt alles eng beieinander und die Fotografin fängt diese Schwellenräume eines Moments mit ihrer Kamera ein.

John Lennon and Yoko Ono, New York City, December 8, 1980, Foto: Annie Leibovitz
John Lennon and Yoko Ono, New York City, December 8, 1980, Foto: Annie Leibovitz

Leibovitz Bilder machen durch ihre wertschätzende Ehrlichkeit, ihre zarte Intimität und ihre erschütternde Wucht gefangen. Und genau davon können sich Freunde wirkungsmächtiger Fotografie und von Annie Leibovitz im Besonderen überzeugen. Der Taschen Verlag hat gut daran getan, diese Version herauszugeben und für ein breiteres Publikum erschwinglicher zu machen.

Titel: Annie Leibovitz
Autor:innen: Annie Leibovitz, Steve Martin, Graydon Carter, Hans Ulrich Obrist, Paul Roth
Verlag: Taschen 2022
556 Seiten, Hardcover in Schuber
125 Euro
ISBN 978-3-8365-8219-3

taschen.com

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