Ausstellungsbesprechungen

Aus der Eröffnungsrede: Monografie des Blaus, Schloss Dätzingen, Grafenau, bis 30. Juni 2012

Keine Farbe hat eine solch breite Palette wie das Blau und kaum eine Farbe – allenfalls die Nichtfarbe Schwarz – hat die Moderne so angezogen wie das Blau, ein kühler Fluss zwischen All und Nichts. Günter Baumann hat sich mit einem Teil dieser monografischen Lebensgeschichte in rund 40 Werken von Adolf Hölzel bis Camill Leberer befasst. Lesen Sie hier einen Ausschnitt aus seiner Eröffnungsrede.

(…) So viel Blau, machen Sie sich auf was gefasst! Und warum werden wir nicht müde, trotzdem immer mehr davon sehen zu wollen als etwa vom Rot oder Gelb? Keine Farbe hat so viel zwischen Hell und Dunkel zu bieten, zwischen Preußisch Blau und Himmelblau rundet sich der weite, weite Planet, der bekanntlich der blaue genannt wird. Der Gegensatz zwischen Dunkel- und Hellrot ist dagegen unerheblich, der zwischen Dunkel- und Hellgelb gar belanglos. Das Hellblau auf Adolf Hölzels Pastellkomposition mit Grafit, untertitelt als »Schwarze Kreisbewegung und blaues Ornament« will so greifbar sein in seiner Umrisslinie, wie es sich ins Transzendent-luzide flüchtet, und Willi Baumeisters wie dahingetuscht wirkende Zeichen auf der Serigrafie zum »Faust-Thema« sind über dem fast durchsichtigen Blaugrund um Halt bemüht. Selbst der gepanzerte Streitwagenfahrer von Georges Braque scheint dahinzuschweben.

Goethe schreibt in seiner Farbenlehre: Das Blau »macht für das Auge eine sonderbare und fast unaussprechliche Wirkung. Sie ist als Farbe eine Energie; allein sie steht auf der negativen Seite und ist in ihrer höchsten Reinheit gleichsam ein reizendes Nichts. Es ist etwas Widersprechendes von Reiz und Ruhe im Anblick. Wie wir den hohen Himmel, die fernen Berge blau sehen, so scheint eine blaue Fläche auch vor uns zurückzuweichen. Wie wir einen angenehmen Gegenstand, der vor uns flieht, gern verfolgen, so sehen wir das Blaue gern an, nicht weil es auf uns dringt, sondern weil es uns nach sich zieht.« Ausgerechnet Goethe, der so sehnsuchtsvoll dichten konnte, »halb zog es ihn, halb sank er hin«, will dem Blau am anderen Ende der Skala, allenfalls in der idealisierten Mischung zum Meergrün, eine höhere Innigkeit zugestehen. Da hat er die Rechnung ohne Max Ackermann gemacht, dessen Pastellarbeit »Versenkung« an die Grenzen des phantasmagorischen Schwarz rührt, verstärkt noch durch die zwei ungleich leuchtenden Blaus innerhalb des dunkleren Blaus. Goethe war das so unheimlich wie Hegel. »Diese leere Nacht, dies leere Nichts«, notierte der Philosoph, »das alles in ihrer Einfachheit enthält, ein Reichtum unendlich vieler Vorstellungen, Bilder«, und er fährt fort: »Diese Nacht erblickt man, wenn man dem Menschen ins Auge blickt – in eine Nacht hinein, die furchtbar wird; es hängt die Nacht der Welt hier einem entgegen«.

Dem Idealisten sein Leid, dem Romantiker seine Freude. Und die blauäugige deutsche Seele, die sich von dort aus durch die Geschichte geschlichen hat, taucht immer wieder in der Moderne auf: in der kosmologischen »Raumlandschaft« von Fred Thieler, auf der titellosen Leinwandarbeit von Bernd Berner, der uns eine faszinierend, aber völlig im Verborgenen umtriebige Nacht suggeriert, oder im ganz entgegengesetzt dazu monochromen Acrylbild »Farbe Blau diagonal« von Lothar Quinte, das so unendlich tief wirkt, dass das Auge nur schwer realisiert, dass von links oben diagonale Streifen in die Fläche ragen. Wenn hier schon die Romantik herüberweht, dann ohnehin auch die Poesie. Dichter sind verliebt ins Blau, zuweilen so exklusiv, dass wir Rückschlüsse auf die Malerei ziehen dürfen, deren Handwerk ja weitgehend von der Farbe lebt. Gottfried Benn mäkelt in seinem Vortrag über die »Probleme der Lyrik« am inflationären Gebrauch aller möglicher Farben herum: »Beachten Sie, wie oft in den Versen Farben vorkommen… – hiermit glaubt der Autor vermutlich besonders üppig und phantasievoll zu wirken, übersieht aber, dass diese Farben ja reine Wortklischees sind, die besser beim Optiker und Augenarzt ihr Unterkommen finden.« Offenbar hält er noch nicht einmal die Maler für geeignete Herbergsväter. Dann aber kommt’s: »In Bezug auf eine Farbe allerdings muss ich mich an die Brust schlagen, es ist: Blau«, für Benn das »Südwort schlechthin«.

Das verlangt nach einer Korrektur der Schöpfungsgeschichte. Keine Sorge, meine sehr geehrten Damen und Herren, ich trage nicht die Genesis vor – die Bibel ist überraschend farblos. Warum, weiß kein Mensch. Nein, meine Schöpfungsgeschichte stammt von Benns Lyrikkollegin Elisabeth Borchers, die vom Blau Pablo Nerudas angeregt wurde, die erklärtermaßen schönste aller Farben logisch konsequent zwischen der Erschaffung des Lichts und der des Menschen einzufügen. Gottes Schreiber müssen das einst vergessen haben. Weil das Gedicht von Borchers mich wieder ins Zentrum unserer Ausstellung zurückführt, will ich es Ihnen nicht vorenthalten. Es heißt »Nerudas Blau«: Das Blau war außer sich vor Freude / Als wir geboren wurden. / Denn zuerst war das Licht / Dann folgte das Blau / Dann folgte der Mensch / Und das Blau erfand ein paar Maler / Und dann und wann einen Dichter dazu. Die Dichter machen jetzt aber kurz Pause, die Maler sind wieder dran. Nur so viel: Den Titel zur Ausstellung entnahmen die Galeristen einem Wunsch Rainer Maria Rilkes, der seiner Frau Clara 1907 schrieb, wie schön es wäre, wenn jemand eine »Monographie des Blaus« schreiben würde: »Welche Lebensgeschichte!« rief er aus. Er nahm selbst daran teil, weshalb wir uns nicht zu wundern brauchen, wenn seine Teilzeitgeliebte Claire Goll ihm schrieb, sie »sehne sich« nach seinen »blauen Briefen«.

Bevor wir hier ganz dem Blau verfallen, möchte ich ein Bild der Themenschau erwähnen, das nicht nur »Störung« heißt, sondern auch als köstlicher Störfall in die Ausstellung hereinplatzt: Volker Blumkowski entwirft in seiner Tempera-Gouache diesen Titels eine Art Bühnenraum, an dessen hinterer Wand blaue Punktkreise unterschiedlicher Helligkeit sowie einige grüne Punkte aufgemalt sind. Soweit, so passend, nur scheint der Kulissenmaler, den Blumkowski auf die Bühne geschickt hat, dessen überdrüssig geworden zu sein: Er sabotiert die Farbharmonie und pinselt demonstrativ einen großen gelben Kreis auf den Boden, als wollte er sagen: Die Welt ist aus der Nähe betrachtet nicht nur blau! Es könnte derselbe Maler sein, der auf dem zweiten Blumkowski-Bild, auf der Leiter stehend, einen breiten blauen Streifen an die Wand malt – der sinnfällige Titel heißt »So geht’s nicht weiter«. Die Blau-Gelb-Polarisation findet übrigens ihren Interpreten in Wassily Kandinsky, der das Blau als typisch himmlische Farbe kennzeichnete und das Gelb als typisch irdische; in diesem Sinne untermalt Blumkowski gewissermaßen die Theorie, indem er den gelben Fleck ordentlich auf dem Boden platziert.

Wenn Sie die Raumflucht der Galerie betreten, prangt am anderen Ende das grandiose Gemälde »Giverny VIII/3« von Karl Otto Götz: Darauf hat er eisklirrende kristalline Formen auf die Leinwand gezaubert, das Blau führt Regie – aber was wäre es, auch hier, ohne das Gelb und ohne das Violett? Kandinsky folgend, treten hier irdische und himmlische Farben in ein Zeit-Raum-Kontinuum, wobei der Titel aufhorchen lässt. Das Bild stammt aus einer Serie, die Monets Garten in Giverny ihre Referenz erweist, und das besondere ist weniger das Faszinosum des Blaus im Einklang mit den anderen Farben als das Fehlen jeglicher Grau- und Schwarzwerte. Es ist klar, dass hier keine fremdbestimmte Blaumacherei betrieben wird. Die Präsentation dieser Monografie des Blaus strahlt vielmehr die Stimmung einer lockeren Leistungsschau einer gleichgesinnten Farbigkeit aus, die sich hier in der Galerie Schlichtenmaier eingefunden hat, um gegenüber dem Farbpluralismus einfach mal selbst und bewusst blau zu machen.

Dazu fällt mir die Liebeserklärung des Malers Ernst Morgenthaler für eben dieses Blau und zugleich für den Rest der Farbenpracht ein: »Das frühlingshafte Königsblau möchte ich … nicht missen und auch nicht das sakrale Kobaltblau … Dazwischen liegt unschuldig das Coelinblau…, dann folgen billig wie gutes Brot die Ultramarin und zum Schluss … das gefährliche, metallisch funkelnde Preußischblau.« Das ist die eine Seite der Medaille, die andere liest sich bei Morgenthaler so: »Das zärtlichste Königsblau wäre nicht so zärtlich und lieb ohne die Kenntnis des bösen Schwarz und des zornigen Rot. So wirkt und lebt das eine nur durch das andere«. Sie finden in der Ausstellung genügend Beispiele. »Kessau, große und kleine Figur« von Willi Baumeister gehört zu einer Reihe von Arbeiten, die über einem schwerelosen blauen Raum in dissonanter und gerade deshalb nahezu traumwandlerisch-perfekter Ausgewogenheit fingierte Formwelten inszenieren, in denen übrigens dem Schwarz eine wesentliche Rolle zukommt, deren blaue Schatten zum Grund hin vermitteln.

Ganz anders legt Johannes Itten in seiner Tempera-Arbeit eine Schicht grobhieroglypher Zeichen über eine Farbschicht, deren blaues Mittelfeld wiederum den raumbildenden Part übernimmt; die Rottöne drängen je nach Mischungsgrad mal forsch, mal sehr verhalten nach vorn, ohne dass es zu einer Vermittlung von Vorder- und Hintergrund kommt. Überall sind hier auffallend versierte Farbkünstler am Werk. Es ist schon eindrucksvoll genug, die Raumtauglichkeit des Blaus auf der Bildebene darzustellen. Doch wie kühn ist es erst, den Farben ihre Räumlichkeit zu nehmen, wie es Georg Karl Pfahler in »Metrolyt« tut. Bei ihm neutralisieren sich die verschiedenen Farbflächen, so dass aus dem Hintereinander in den eben erwähnten Werken ein beachtliches Nebeneinander wird. Dass sich das Blau ausnahmsweise auch einmal nach vorne anstatt nach hinten oder gar nicht auszudehnen vermag, zeigt das lyrisch-melancholische Blatt »Protege nos domine« von Julius Bissier.

Natürlich geht es in der Ausstellung im Wesentlichen ums liebe Blaue. Gelb hin oder her. Noch einmal sei die Farbe nachdrücklich charakterisiert. In seinen Ausführungen »Über das Geistige in der Kunst« hat Wassily Kandinsky zusammenfassend formuliert: »Die Neigung des Blau zur Vertiefung ist so groß, dass es gerade in tieferen Tönen intensiver wird und charakteristischer innerlich wirkt. Je tiefer das Blau wird, desto mehr ruft es den Menschen in das Unendliche, weckt in ihm die Sehnsucht nach Reinem und schließlich Übersinnlichem. Es ist die Farbe des Himmels, so wie wir uns ihn vorstellen bei dem Klange des Wortes Himmel … Sehr tiefgehend entwickelt das Blau das Element der Ruhe. Zum Schwarzen sinkend, bekommt es den Beiklang einer nicht menschlichen Trauer. Es wird eine unendliche Vertiefung in die ernsten Zustände, wo es kein Ende gibt und kein Ende geben kann. Ins Helle übergehend, wozu das Blau auch weniger geeignet ist, wird es von gleichgültigerem Charakter und stellt sich zum Menschen weit und indifferent, wie der hohe hellblaue Himmel. Je heller also, desto klangloser, bis es zur schweigenden Ruhe übergeht - weiß wird. Musikalisch dargestellt ist helles Blau einer Flöte ähnlich, das dunkle dem Cello, immer tiefer gehend den wunderbaren Klängen der Bassgeige; in tiefer feierlicher Form ist der Klang des Blau dem der tiefen Orgel vergleichbar«.

Das ist abstrakt gedacht, und die ungegenständlichen Positionen sind wahrscheinlich nicht von ungefähr in puncto Blau hier in der Mehrheit, immerhin enthält die Farbe so viel transzendente Energie, dass sich auch die Figuration verflüchtigt (man denke nur an die eingangs erwähnte, ins Blau vergeistigte Madonna von Stephan Lochner). Deshalb will ich exemplarisch doch auch gegenständliche Motive hervorheben, die sich allerdings auf den ersten Blick abstrakter Mittel bedienen. Von HAP Grieshaber stammt der Farbholzschnitt »Blaue Vase, Hommage à Cézanne«, wo sich das Motiv gegen seine eigene Objektivierung wehrt. Erst der Titel klärt in der Sache auf, während die Widmung signalisiert, dass es nur ein Schritt vom Gegenstand zur Abstraktion ist. Es ist schon spannend festzuhalten, dass sich das Blau gegen die Erdenschwere zu behaupten versucht. Stellt man sich das Motiv konkret vor, erhält es auch eine schwermütige Note. »Ein blauer Tag / Nichts Böses kann dir kommen / an einem blauen Tag«, dichtet Hilde Domin, ernüchtert: »Auch an blauen Tagen / wird nichts zurückgenommen. / Niemand kann es glauben: / Auch an blauen Tagen / bricht das Herz«.

Ein besonderes Bild ist in diesem Kontext Hans Peter Reuters »Kirr 6/1/8«, das wiederum im Untertitel »Erinnerung an C.D.F.« seine diesmal dramatische Gegenständlichkeit zeigt. Man sieht nur eine sich überlagernde Kachelschichtung in blauer Farbgebung, von hellem zum dunklen Blau soghaft hinabsteigend. Führt man sich das Bezugsbild von Caspar David Friedrich, »Das Eismeer / Die gescheiterte Hoffnung« vor Augen, verliert sich die Kühle im Reuterschen Bilderkosmos. In Friedrichs Gemälde türmen sich die Eisschollen empor, so dass das Hauptmotiv fast übersehen wird: Es handelt sich eigentlich um einen Schiffsuntergang, der alle Hoffnung dahinsinken lässt. Die viereckigen Kacheln Reuters werden so zu einer Makroaufnahme von Eiskristallen, die die Bildfläche zersprengen und den Betrachter in den Abgrund ziehen. Und hyperrealistische Detailmarkierungen stoßen auf abstrakte Strukturen. Wie eine filigrane Fleißarbeit oder eine plastische Vorstudie zum »Eismeer«-Bild wirkt Reuters Collage-Relief »Konstruktives Chaos«, in der der Maler seine räumlich-akkurate Malerei zwischen dem Wunderbaren und dem Nichts, zwischen Chaostheorie und Ordnungssinn in eine dritte Dimension verlegt.

Das trifft letztlich auch auf das Figurenbild und die Landschaft zu, wovon einige Beispiele zeugen. Das geisthaltige Blau scheint sich dem konkreten Abbild zu entziehen. Cordula Güdemann kehrt die subjektive Farbmischung expressionistisch um und verpasst dem VIP-Kopf aus ihrer Serie bekannter, aber kaum identifizierbarer Porträts zwar ein heiteres Blau, aber genau das verrätselt das Bildnis auch zur subjektivierten Form einer gescheiterten Hoffnung. Selbst Oskar Schlemmers kompositionell angeschnittenes, in türkisleuchtende Kleidung gehülltes Figurenpaar, das sich vom tiefblauen Hintergrund abhebt, verwandelt sich durch die Farbgebung zu einem für den Bauhauskünstler emotional eher ungewöhnlich eindringlichen Personenstück. Die Landschaft begegnet uns assoziativ, etwa in dem düsteren Gemälde »Saida« von Emil Schumacher, einem Hauptwerk dieser Ausstellung, oder in Henry Michaux’ titellosen Bild, auf dem fantastische Wesen unter einem hingewischten Himmel entlanghuschen. Ein verschlüsseltes Figuren- und Landschaftsbild bietet Peter Sehringer mit seiner Arbeit »Zu Zweit«: Stellvertretend donnern zwei Militärjets durch den Himmel – da sollte es vorbei sein mit der Ruhe, das Blau wird schon brüchig. Aber es hält (...).

Blau macht nachdenklich. In der Abstraktion greift es nach der Unendlichkeit, in der Gegenständlichkeit neigt es zur Melancholie. Um zu zeigen, dass es auch beglückend sein kann, (…) sei ein letztes Gedicht zitiert, »blauer himmel« von Kurt Marti: Glücklich / die ihr betrunken sein könnt / vom blau des himmels! // möge der rauschtrank / nie mangeln / und süffig ein leuchtvorrat / auch unter finstergewölk / aus schuh und angel / euch heben // trinkt blau / trinkt nicht kummer!« (…)

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