Der Norden atmet auf! Nach diversen Umbaumaßnahmen meldet sich das Staatliche Museum Schwerin mit einer unbedingt sehenswerten Schau über den Erfinder des Waldbodenstilllebens zurück. Stefan Diebitz hat eine fulminante Ausstellung besucht.
Otto Marseus van Schrieck (1619/20 – 1678) war vielleicht niemals ganz vergessen, aber besonders die breitere Öffentlichkeit hat bis heute von diesem wichtigen Künstler kaum Notiz genommen. Und dabei war er zu seiner Zeit eine Berühmtheit, dessen Werke unter anderem von den Medicis gesammelt wurden. Dazu hielt er Kontakt zu den großen Naturforschern der Epoche. Seine Arbeiten zu Beginn einer wissenschaftlichen Revolution zeigen zwar immer noch Einflüsse einer nur langsam untergehenden religiösen Sicht auf die Natur, sind aber gleichzeitig der Zukunft zugewandt, einer von Moral und Theologie freien Erforschung von Flora und Fauna. Diese Doppelgesichtigkeit ist für das Widersprüchliche und Anregende seiner Kunst verantwortlich, in der sich das Schöne und das Hässliche ebenso vermischen wie Realismus und allegorisch überformte Wahrnehmung.
Es scheint außerordentlich schwierig, die Werke des großen Niederländers chronologisch zu ordnen und so einen Hinweis auf seine stilistische Entwicklung und die Veränderung seiner Interessen zu gewinnen, weil er über Jahrzehnte hinweg seiner Thematik treu blieb und tatsächlich niemals davon abwich, die Natur zu dokumentieren. Und es war meist die wilde Natur. Zwar malte er gelegentlich auch Blumen, aber reine Blumenstücke finden sich unter den Gemälden nur ganz wenige. Vielmehr war er ein Spezialist für Waldstücke (sottobosco), auf denen sich um akkurat abgebildete Pflanzen herum kleine Tiere versammeln, meist, um einander aufzufressen. Von Stillleben sollte man also nicht unbedingt sprechen, denn es sind keine statischen Bilder, sondern Blicke auf eine stets zumindest latent gewalttätige Natur, die von Bewegung, wenn nicht gar Dynamik gezeichnet sind. Schmetterlinge tanzen und taumeln, Schlangen richten sich auf, den starren Blick auf einen Frosch oder auf ein Insekt gerichtet, und immer wieder sitzen Kröten und Frösche auf dem Boden.
Otto Marseus ist ein Freund der Schlangen gewesen, sogar so sehr, dass er deshalb »De Snuffelaer« (Der Schnüffler) genannt wurde. Verschiedene wechselblütige Tiere hat Marseus nicht allein immer und immer wieder gemalt, sondern sie sogar in seinem Garten vor den Toren Amsterdams gehalten und gepflegt, und es ging die Fama, er habe seine Kröten geküsst. Das ist bestimmt Unsinn, aber diese Tiere wie alle anderen auch hat er so präzise, mit so viel Liebe zum Detail, so genauer Kenntnis ihrer Zeichnung und so viel Verständnis für ihre Bewegungen gemalt, dass er sie keinesfalls abstoßend gefunden haben kann. Ganz offensichtlich war er ein Fachmann, den nicht wenige renommierte Naturforscher als Gesprächspartner akzeptierten und auf den sich einmal sogar mit Jan Swammerdam einer der prominentesten Naturforscher und Biologen seiner Zeit berief. Mit verschiedenen anderen Gelehrten stand Otto Marseus zusätzlich im regen Briefwechsel.
Dank der Beobachtungsgabe dieses Malers besteht über die Art der Tiere auf seinen Bildern niemals Unklarheit, aber es ist höchst merkwürdig, dass er auf der anderen Seite ihr Verhalten – sicherlich wider besseres Wissen – notorisch falsch dargestellt hat. Zum Beispiel züngeln die Schlangen von Otto Marseus nach Schmetterlingen, was sie in Wahrheit niemals tun, denn schließlich können Schlangen Schmetterlinge gar nicht wahrnehmen. Warum also Schlangen, die Falter fressen wollen? Schmetterlinge sind traditionell Symbole der Seele eines Menschen, insbesondere ihrer Unsterblichkeit, wogegen die auf dem Boden kriechende Schlange seit der Genesis das Symbol des Bösen ist. So spielen auf diesen Bildern Naturtreue bei der Abbildung der Gestalt und traditionelle Allegorik bei der Zuschreibung eines falschen Verhaltens ineinander.
Den Ambivalenzen innerhalb seiner Bilder, besonders aber ihrer alchemistischen Symbolik, geht im Katalog unter dem Titel »Psychomachia« Karin Leonhard nach und zeigt, dass man die Arbeiten von Marseus als einen Kampf »zwischen Tugend und Laster, oder allgemeiner: zwischen Polaritäten wie Tag und Nacht, Helligkeit und Dunkelheit, Geist und Materie« lesen kann. Es spielen also einerseits religiöse, andererseits alchemistische Bedeutungen neben den naturhistorischen Fakten immer auch eine Rolle.
Für das »Sottobosco mit Kröte und blauer Winde«, mit dem für die Ausstellung geworben wird, zeigt Leonhard, dass sich »die Gegenüberstellung von Kröte und blauer Winde als dichotisch [erweist], also von zwei Seiten her argumentierend: Sie eröffnet sowohl eine buchstäbliche als auch eine figürliche Lesart; sie konstituiert und zeigt, präsentiert und repräsentiert die antagonistischen Kräfte der Natur, die sich via Farbe sichtbar äußern.« Den angesprochenen Gegensatz findet man auch noch auf anderen Bildern.
Die Ambivalenzen zeigen sich auch noch bei einem anderen Aspekt von Marseus‘ Kunst. Fast alle Werke dieser Ausstellung sind nämlich dunkel, sogar sehr dunkel, bestimmt von einem fast schwarzen Hintergrund, auf dem sich die Blüten oder die »Blumen des Tierreichs« (Jean Paul), die Schmetterlinge, strahlend abheben. Wer sich über die Leuchtkraft besonders der Schmetterlingsabbildungen wundert, der sollte wissen, dass Marseus Schmetterlingsflügel in die feuchte Farbe drückte, so dass sich die Schuppen erhielten.
So bieten die Gemälde einen überaus ästhetischen, durch und durch schönen Anblick, aber auch hier gilt wohl, dass (mindestens!) zwei Aspekte ineinander spielen, dass also nicht allein das Leuchtende durch den dunklen Hintergrund spektakulär hervorgehoben wird. Vielmehr nimmt, wie es Seelig ausdrückt, »die Dunkelheit des Hintergrundes in diesen Tieren gewissermaßen Gestalt« an. Das Dunkle gibt einen Hinweis auf das Niedere, wenn nicht Böse der Tierwelt, der Kröten und Frösche, des kriechenden oder fliegenden Ungeziefers, der Skorpione, Echsen oder zahllosen Schlangen, die diese Bilder bevölkern und die sich in einer so ästhetisch ansprechenden Weise geschildert finden.
Bei dieser Gelegenheit sei auf die kulturgeschichtliche Untersuchung »Vom Frosch« hingewiesen, in der der Literarhistoriker Bernd Hüppauf der Ablehnung der Kröten und Frösche durch den Menschen nachgegangen ist. Dieses Buch ist zusätzlich deshalb interessant, weil es die Geschichte von Frosch und Kröte als den bevorzugten Versuchstieren der damaligen Biologen erzählt. Aber offensichtlich gibt es Menschen in ausreichender Zahl, die weder diese Tiere aufschneiden wollen, noch sich vor ihnen ekeln, und einer von ihnen, der Schweriner Zoodirektor Tim Schikora, demonstrierte seinen gelassenen und fürsorglichen Umgang mit zwei Kröten, als er sie vorsichtig in die Hand nahm und in ein Terrarium setzte, damit sie die nächsten Monate als Teil dieser Ausstellung verbringen.
Es werden in Schwerin also keineswegs nur Bilder gezeigt, denn die breit angelegte Ausstellung ist nicht allein mit Blick auf den kunsthistorisch Interessierten angelegt, sondern zeigt auch Exponate zur Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, unter anderem Schriften großer Naturforscher des 17. Jahrhunderts. Zur Abwendung von der Religion kam ja noch die Erfindung diverser optischer Instrumente, die eine detailliertere Untersuchung kleiner Lebewesen erlaubten und erstmals zeigten, dass auch diese Tiere ein organisches Innenleben besitzen und sich geschlechtlich fortpflanzen, nicht etwa durch »Urzeugung« in die Welt treten. Auch wenn Otto Marseus ganz offensichtlich ein Künstler und seine Arbeit teils von rein ästhetischen, teils von alchemistischen Überlegungen bestimmt war, so bewegte sich sein Werk doch immer nahe an der Wissenschaft und empfing nicht allein von dort Anregungen, sondern konnte selbst auch Forscher inspirieren.
Schließlich müssen wir das Glanzlicht der Ausstellung ansprechen, ihren spektakulären Schluss- oder besser Ausrufepunkt. Dieses Werk stammt trotz der großen Begabung von Marseus nicht von diesem, sondern von keinem Geringeren als Rubens. »Das Haupt der Medusa« (1617/18) in der Version des slowakischen Brno fasst, wie sich Kurator Gero Seelig ausdrückt, »die durch Marseus‘ Kunst aufgeworfenen Themen« zusammen; es markiert eine »Zone, in der die Reiche von Tradition und Naturwissenschaft im 17. Jahrhundert sich nicht nur berühren, sondern in der Tat überschneiden«.
Auch hier, beim Bild des abgeschlagenen Kopfes mit der Schlangenfrisur, spielen Naturtreue und Mythos ineinander, denn es gibt ein Schlänglein mit einem Kopf an jedem Ende, ein Tier windet sich sogar auf dem Rücken, und doch gewinnt der teils magisch angezogene, teils abgestoßene Betrachter den Eindruck eines ganz realistischen Geschehens. Das gilt für das wimmelnde Schlangengezücht, das bei manchem Betrachter Alpträume hervorrufen mag, auch für den Feuersalamander, den Skorpion oder die Spinnen im Vordergrund, aber das gilt vielleicht noch mehr für den sich verdrehenden Blick der eben erst sterbenden Medusa, aus deren Blut neue Schlangen hervorgehen, und damit überhaupt für das Zusammen und Ineinander von Schönem und Hässlichem. Medusa war eine Schönheit, was sich noch an ihrem todesbleichen Kopf zeigt, eine Schönheit, deren erschreckenden Anblick man meiden musste, wollte man die Begegnung überleben. Diese Ambivalenz der Medusa ist auch die Ambivalenz der Werke des Schlangenmalers Marseus.
Rubens schaut von schräg oben auf das Haupt der Medusa, und diesen Blickwinkel bevorzugten die meisten Künstler, die Blumen oder niedere Tiere malten. Marseus dagegen wählte fast immer eine Perspektive, die sich aus einem ganz niedrigen Standort ergibt: Betrachter wie Maler befinden sich auf derselben Ebene wie die wimmelnde Tierwelt, und vielleicht zeigt schon dies, wie ähnlich er den Naturforschern seiner Zeit war.
Ein besonderes Thema in der Ausstellung sind noch Kuriositätenkabinette, die vom Ende des 17. Jahrhunderts an für mehr als einhundert Jahre von wohlhabenden Bürgern oder vom Adel gepflegt wurden. So wird der »Thesaurus des Albertus Seba«, eines in Amsterdam sesshaften Apothekers, vorgestellt, und man kann zwei Schubladen mit Muschelarrangements besichtigen oder eine Radierung, die Vögel und Schlangen zeigt. Seba ließ seine offenbar gewaltige Sammlung in einem Folianten dokumentieren, und ähnlich verhielt sich Levinus Vincent, ein reicher Händler, der eine berühmte Naturaliensammlung anlegte. Seine ebenfalls extrem aufwendige Publikation war »Wundertheater der Natur« überschrieben, und in der Ausstellung kann man einzelne Tafeln besichtigen.
Auf demselben hohen Niveau wie die Ausstellung bewegt sich auch der schöne, bereits mit seinem Einband fesselnde Katalog.
Vielleicht sollten Schlangenphobiker diese Ausstellung besser meiden – allen anderen sei eine Reise nach Schwerin dringend empfohlen.