Mit dieser ersten Biographie über Thea Sternheim (1883–1971) gelingt Dorothea Zwirner – Kunsthistorikerin, freie Autorin und Kritikerin – ein einfühlsames, nachdenklich stimmendes Werk über eine unangepasste Frau. Im Fluss ihrer Sprache entfaltet sich das vielgestaltige Bild Thea Sternheims, die »als Mitarbeiterin, Muse und Mäzenin von Carl Sternheim, als Sammlerin avantgardistischer Kunst von van Gogh bis Picasso, als Amateurfotografin vieler berühmter Zeitgenossen« sowie als »hellwache und scharfzüngige Chronistin« am Aufbruch der Moderne partizipiert. Verena Paul hat das Buch gelesen.
Es sei vorweggenommen: spätestens mit dieser Biographie dürfte deutlich werden, dass Thea Sternheim, die »im wohlhabenden Fabrikantenmilieu ihres rheinisch–katholischen Elternhauses« aufgewachsen ist, weit mehr war als die Frau an der Seite des skandalumwitterten Dramatikers Carl Sternheim. Den roten Faden bilden dabei ihre über sechs Dekaden hindurch geführten Tagebücher, die uns dieses Frauenleben näherbringen, in dem glühend gefühlt, nüchtern verstanden und tief gedacht wurde. Doch wie wird Thea Sternheim zu diesem Menschen? Wie gestaltet sich ihre Kindheit und Jugend in der wilhelminischen Gesellschaft? Welche Rolle spielen Glaube, Literatur und Kunst für die Heranwachsende, die erste, früh eingegangene Ehe mit Arthur Löwenstein und die »unheilvolle Dreisamkeit« im Übergang zur zweiten Ehe mit Carl Sternheim? Diesen Fragen widmet sich die Biographin zu Beginn und überlässt dabei Thea Sternheim regelmäßig das Wort, wodurch diese Frau an Faszinationskraft gewinnt, etwa wenn sie 1904 in ihr Tagebuch notiert: »Ich gehöre keinem Menschen an. Ich gehöre mir! Ich verschenke mich, aber ich kann mich keinem verpflichten. Es soll keiner wagen, mir zu sagen: Du sollst! «
Die erste Ehe mit Arthur Löwenstein ist, wie Dorothea Zwirner schreibt, eine »jugendliche Protestehe«. Und auch die ebenso leidenschaftliche wie verhängnisvolle Ehe mit Carl Sternheim gestaltet sich schwierig, hält aber mit vielen Höhen und noch mehr Tiefen zwei Dekaden (1907–1927). Die drei Kinder Agnes, Dorothea (»Mopsa«) und Klaus bereiten Thea sukzessiv Sorgen, zwei von ihnen sterben vor ihr. Glaube, Kunst und Literatur werden schon früh zu den Säulen in Theas Leben. Sie tragen sie durch die persönlichen ebenso wie durch die historischen Krisen hindurch. Und nicht zuletzt entwickelt Thea Sternheim eine enge Beziehung zur Malerei und zu Büchern, worin sie ihre eigenen Erfahrungen erforscht. Über van Goghs »Arlesierin« notiert sie 1908 in ihr Tagebuch: »Der Gedanke packt mich, dass die Arlesierin da allein in dem leeren Musikzimmer hängt; ich hole sie herbei und sieh da, sie erfüllt mit ihrem Wesen den ganzen Raum. Van Gogh ist bei mir! Das ist ein lieber Gast.« Auch Literatur hinterlässt starke Spuren in ihrem Denken und Autoren wie Dostojewski, Flaubert, Stendahl und in späteren Jahren Henry James, William Faulkner und Günter Grass mit seiner »Blechtrommel« machen Eindruck auf Thea. Sie pflegt Kontakte zu Künstler:innen, ist u.a. mit Gottfried Benn und Frans Masereel befreundet.
Weltgewandt und in Deutschland ebenso beheimatet wie in Belgien, Frankreich oder in der Schweiz, zudem mit feinem Gespür ausgestattet, nimmt sie schon früh politische Umwälzungen wahr und hält diese in ihrem Tagebuch fest. »In der Balance zwischen leidenschaftlicher Stellungnahme und messerscharfer Analyse liegt«, so Zwirner, „der Maßstab, den sie an die Literatur anlegt und für ihr eigenes Tagebuch anstrebt“, denn Thea Sternheim möchte die »bittere Wahrheit« ergründen. Als sie einige Wochen vor ihrem Tod am 5. Juli 1971, siebenundachtzigjährig, dem Marbacher Literaturarchiv letztmals Briefe sowie ihr Tagebuch übergibt, dankt dessen Direktor Thea Sternheim in einem Brief für die außergewöhnliche »Dokumentation Ihres eigenen Lebens als eines Kapitels deutscher und europäischer Geschichte und Geistesgeschichte unseres so unfassbaren Jahrhunderts«. Es sei, so schreibt er weiter, »Spiegel und Niederschlag eines ganz ungewöhnlichen individuellen Schicksals in der Verflechtung mit den Geschicken der Allgemeinheit. Welch eine ungeheure geistige Leistung und geistige Diszipliniertheit repräsentieren die sechs Jahrzehnte hindurch geführten Tagebücher«, die zum wunderbaren Kennenlernen dieses Frauenlebens beitragen.
Dorothea Zwirner gelingt eine wohltuende Balance zwischen Informationen zu Zeitgeschehen und Personen (Text und Abbildungen) und der behutsamen Annäherung an ein ebenso faszinierendes wie dramatisches Leben. Mit zugewandtem, ehrlichem Blick auf die Protagonistin, deren eigene Worte diese Biographie zu einem Erlebnis machen, werden wir Zeugnnen einer von kulturellen Höhepunkten sowie von politisch katastrophalen Zäsuren geprägten Epoche. Eine klug und mit Verve geschriebene, lebenspralle, hochpolitische Biographie, die zeigt, wie kraftspendend nicht nur Glaube, sondern auch Literatur, das eigene Schreiben und Kunst sein können.
Titel: Thea Sternheim. Chronistin der Moderne
Autorin: Dorothea Zwirner
Verlag: Wallstein Verlag, Göttingen
Gebunden, 413 Seiten
28,00 EUR
ISBN 978–3–8353–5060–1