In einem umfangreichen Band wird das Lebenswerk des Fotografen Karl Braune vorgestellt – das Werk eines Mannes, der nie ein professioneller Fotograf zu werden wagte, sondern immer seinen Brotberuf behielt, um jede freie Minute seiner Leidenschaft zu widmen. Seine Schwarzweißfotos sind außerordentlich beeindruckend und besitzen zweifellos künstlerische Qualitäten. Stefan Diebitz liebt seine Fotos seit langem.
Es sind verschiedene Perspektiven, unter denen man sich dem Werk dieses Fotografen nähern kann. Zunächst besitzen seine Bilder einen erheblichen dokumentarischen Wert, denn in der Nacht zu Palmsonntag 1942 starb das mittelalterliche Lübeck im Bombenhagel, um in dieser Form niemals wieder aufzuerstehen. Wie unersetzlich und einmalig alles war, das sieht man, wenn sich auf den Fotos die geschlossenen Straßenzüge hinziehen, wenn man die alte Stadtmauer bewundert oder die unendlich wertvollen Altäre und Kunstwerke, die in einer einzigen Nacht in den Kirchen verbrannten. Karl Braune hatte das alles vorher fotografiert und zum Teil in Fotomappen vorgelegt, und nach dem Feuersturm wurde er von der Propaganda mit der Dokumentation der Schäden beauftragt.
Diese Bilder rühren einen seltsam an: Wie kann ein solches Elend ästhetisch reizvoll sein? Aber das ist es zweifellos, denn Mauerbögen in einer Trümmerlandschaft sind ebenso fotogen wie hohläugige Ruinen oder zerfaserte Laubbäume. Das Elend der Bevölkerung lassen diese Bilder nur ahnen. Heute kennen wir derartige Bilder aus Syrien, aber in Deutschland sah es eben auch einmal so aus.
Noch eine weitere Bedeutung gewinnen diese Bilder, wenn man weiß, dass nach dem Krieg die Zerstörung der mittelalterlichen Stadt dazu genutzt wurde, sie ohne jede Einschränkung dem Autoverkehr zu öffnen – so sehr, dass man selbst dort, wo es noch die alten Bauwerke gibt, diese kaum erleben und bewundern kann. Denn alles ist zugeparkt und zugestellt, obwohl wiederholt Anläufe unternommen wurden, die Altstadtinsel autofrei zu bekommen. Aber diese Versuche, halbherzig wie sie waren, führten sie zu gar nichts. Heute kann man die Stadt hinter dem Blech kaum noch sehen.
Karl Braune (1896 – 1971) konnte von all dem nichts ahnen, als er in den zwanziger und dreißiger Jahren mit dem Fotografieren begann. Trotz einiger Preise und Veröffentlichungen wurde er niemals ein professioneller Fotograf, sondern blieb immer ein Gerichtsbeamter, der über Jahrzehnte auf der Suche nach schönen Motiven durch Lübeck streifte. Ironisch nannte er sein Fotografieren »Knipsen«, aber vor meinem inneren Auge steht er mit einem Belichtungsmesser in der Hand: Geknipst hat er bestimmt nicht, denn alle seine Bilder beweisen, dass er sehr sorgfältig und überlegt gearbeitet hat. Seine Bilder imponieren bereits wegen ihrer hohen technischen Qualität, aber viel wichtiger scheint es, dass sie alle durchkomponiert und durchdacht sind. In dem dicken Band, den Jan Zimmermann jetzt herausgebracht hat, kann man sich einen Eindruck von einem ernsthaften und begabten Fotografen mit künstlerischem Anspruch und eigener Handschrift verschaffen.
Schon in den Jahren vor dem 2. Weltkrieg gab Braune zwei Fotomappen heraus. Es ist das mittelalterliche Lübeck, das in den Bildern gefeiert wird: mal sind es Kirchenkanzeln, mal Straßenzüge mit barocken Fassaden oder Treppengiebeln, und dazu kommen noch einige sehr eindrucksvolle Winterbilder, manche davon in der Nacht aufgenommen. Ein Bild belästigt uns mit Hakenkreuzfahnen in der Innenstadt, und das schönste zeigt eine Treppenstiege neben den beiden mächtigen Türmen des Doms mit ihren verschneiten Stufen.
Braunes Bild der Teufelstreppe ist schon wegen seiner Stille besonders schön – und wegen dem, was es nicht zeigt. Denn auf seinem Foto verbirgt einer der die Treppe überspannenden Mauerbögen eine alte Gaslaterne, die man also nicht sehen kann. Und doch dominiert sie das Bild! Auf den Stufen rechts und links und auf dem Handlauf liegt Schnee, ebenso wie auf den Mauerbögen, und weiter oben sieht man den Lichtschein auf den dunklen Ziegeln der Kirche, aber eben nicht die Laterne selbst. Es ist ein ganz schlichtes und sehr ruhiges Bild, das von dem Kontrast zwischen Schnee und dunklem Stein bestimmt ist, aber den Betrachter auch in seine Tiefe hineinzieht: er sieht sich selbst die Treppe hinaufsteigen und in der Nacht verschwinden.
Diese räumliche Tiefe findet sich auf vielen Fotos des schönen Bandes – so gleich auf dem Einband, der eine der in der Bombennacht zerstörten Straßen in der Innenstadt zeigt, ein anderes Mal, als der Fotograf den Elbe-Lübeck-Kanal auf der Höhe der heutigen Rehderbrücke ablichtete. Wenn das Wetter nicht klar ist, sondern ein wenig diesig, so dass der Blick zwar eine Weile dem davonlaufenden Ufer folgt, sich aber dann in der Ferne verliert, dann stellt sich diese Tiefe ein, die den Betrachter zu sich hinführt.
Neben seiner Gabe, einen Bildraum mit Vorder- und Hintergrund aufzubauen, besaß Braune eine deutliche Vorliebe für interne Bilderrahmen aus den Zweigen von Bäumen, den Bögen der Rathausarkaden oder der heute leider fast ganz verschwundenen Stadtmauer. Oh, und er liebte das Gegenlicht und nasses Kopfsteinpflaster! Viele Bilder sind so schön und auch technisch so hochwertig, dass man sie sich stark vergrößert als Poster an der Wand oder gerahmt hinter Glas vorstellen kann. So präsentiert der Herausgeber unter der Überschrift »Fahles Licht« zwei ungemein stimmungsvolle Bilder vom Petrikirchhof und der Obertrave – in beiden Fällen spielen geschmiedete Gaslaternen eine wesentliche Rolle, die sich in der Dämmerung klar vor dem blassen Himmel abzeichnen.
Ist Fotografie Kunst? Und wenn ja: Gibt es einen fließenden Übergang von einem leidenschaftlichen Hobbyfotografen hin zu einem Künstler? Der Rezensent, der teils dieselben Motive wie Braune fotografierte, würde sich niemals als Künstler verstehen. Aber den bescheidenen Gerichtsbeamten Braune, der leider im Dritten. Reich zum Mitläufer mutierte, Braune darf man einen Künstler nennen. Oder man sollte. Ein wesentlicher Grund ist sein technisches Equipment, das zwar hochwertig war, den Fotografen aber niemals aus der Verantwortung entließ: Wir dagegen vertrauen heute blind den Kameras, die oft genug mit ihren Korrekturen die Absichten des Fotografen hintertreiben. Zu Braunes Zeiten geschah noch kaum etwas automatisch – von der Einstellung der Blende bis hin zum fertigen Abzug mussten Fotografen alles selbst erledigen. Ohnehin bekommt man Schwarzweißabzüge, wie er sie selbst entwickelte, schon lange nicht mehr – oder jedenfalls nicht, wenn man nicht selbst aktiv werden will oder aber sehr viel Geld auf den Tisch legt.
Schließlich muss noch der Herausgeber genannt werden. Der auf Fotografien spezialisierte Historiker Jan Zimmermann, der im vergangenen Jahr im Behnhaus mit einer schönen Ausstellung die Geschichte der Lübecker Fotografie dokumentierte, hat den umfangreichen Nachlass Braunes nicht allein gesichtet und die besten Fotos ausgesucht und knapp, aber sachkundig kommentiert. Sondern zusätzlich musste er die Bilder erst einmal für den Druck aufbereiten, also digitalisieren. Das ist ihm in einer mehr als zufriedenstellenden Weise gelungen. Die grobkörnigen Aufnahmen der Anfangsjahre Braunes jedenfalls sind nicht Zimmermann anzulasten, sondern haben mit dessen Kamera zu tun. Später benutzte er besseres Material, und die Abbildungen genügen auch höheren Ansprüchen.
Anders als wir heute liebte Braune keine extreme Perspektiven, sondern benutzte Objektive mit einer dem menschlichen Auge ungefähr entsprechenden Brennweite, so dass es weder Weitwinkel, gar Froschauge, noch die Aufnahmen mit Teleobjektiv und den entsprechenden Verzerrungen zu sehen gibt. Farbaufnahmen finden sich nur wenige, und es sind mit einer einzigen Ausnahme nicht die schönsten – die Schwarzweißbilder dagegen sind zum Träumen, und manch Hobbyfotograf wird auf seiner Festplatte gucken, ob er seine Bilder nicht doch in Schwarzweißbilder rückverwandelt.
Ein Farbfoto aber muss unbedingt erwähnt werden. Es ist die ganz unglaublich schöne Aufnahme des Bahnsteigs 4 des nächtlichen Lübecker Bahnhofs. Rechts stehen die Doppelstockwagen der Lübeck-Büchener-Eisenbahn, links wartet ein anderer Zug. Das einmalig Schöne des Bildes ist das nächtliche Licht, das die Halle erfüllt, die Fenster der Züge leuchten lässt und auch auf den Bahnsteig fällt. Kein Mensch ist zu sehen, wirklich niemand, aber in der Mitte zeigen altmodische Schilder, dass es links nach Hamburg geht. Rechts aber auch, und wenn man dann noch einmal genauer hinschaut, dann sieht man eine Dame ganz weit rechts hinten. Gleich wird sie wohl einsteigen. Oder wie wir dem Zug hinterherschauen.