Heftig diskutiert wird sie seit einigen Jahren in der Kunstpädagogik, die Bildkompetenz, und ihre Bedeutung scheint zu wachsen. Wie kann Kunstvermittlung und Kunsterziehung dazu ermächtigen, mit der täglichen Bilderflut einer digitalisierten Welt umzugehen? Welche kognitiven und affektiven Reaktionen zeigen wir darauf? Welche Rolle spielt dabei der schulische Kunstunterricht? Diese und andere Fragen beinhaltet der Begriff, dem sich Kunibert Bering und Rolf Niehoff in ihrem Buch widmen. Benjamin Schaefer hat ihr Buch gelesen.
»Bildkompetenz« ist ein Schlüsselbegriff der kunstdidaktischen Debatte der letzten Jahre. Er taucht etwa in den Bildungsstandards des BDK Fachverbandes für Kunstpädagogik auf und dient dazu, Kunstvermittlung in der allgemeinen Kompetenzorientierung der Didaktik zu rechtfertigen. Das Buch »Bildkompetenz. Eine kunstdidaktische Perspektive« von Kunibert Bering und Rolf Niehoff verbindet neuere wissenschaftliche Ansätze aus vielen Disziplinen zu einem kohärenten Entwurf von »Bildkompetenz« und wartet zahlreichen Bildbeispielen auf – wenn es auch Einseitigkeiten beinhaltet.
Mit Pathos entwerfen die Autoren aus einer Perspektive »nach der Bilderflut« ihr Modell der Bildkompetenz, das vor allem der Ausbreitung digitaler Medien und einer auch kulturellen Globalisierung gerecht werden soll. Sie gehen von dem »pictorial turn« nach Mitchell aus, demzufolge das Bild eine Schlüsselrolle einnimmt in einer zusammengewachsenen Welt. Auch Hirnforschung und Geschichtsphilosophie sprechen dafür, dass sich Realität und Sinn nur individuell konstruieren lassen.
Genau diese Erarbeitung von Sinn verorten Bering und Niehoff exemplarisch im Kunstunterricht. Denn erstens sei das der einzige Ort, in dem es um das Bild als solches gehe; zweitens gibt es, wie eingangs angedeutet, eine schier unglaubliche Fülle an Material; drittens schließlich erlaubt die »ästhetische Grenze« zwischen Bild und Realität mannigfaltigen Umgang mit diesen beiden – das Bild kann als »Surrogat« der Wirklichkeit gespeichert, manipuliert, vervielfältigt und neu kontextualisiert werden. Solche Kontexte sind den Autoren zufolge – gerade für junge Menschen – dringend notwendig für eine Orientierung in einer postmodernen Welt ohne festgeschriebene Bedeutungen.
Fünf Dimensionen machen die hier vorgestellte Bildkompetenz aus, die bildorientiert und kognitiv geprägt sind. Das Hauptaugenmerk legen die Autoren auf die bildgeschichtliche Dimension, durch die jedes beliebige Bild aus Massenmedien oder Kunst ikonografisch eingeordnet werden kann. Das »kulturelle Gedächtnis« nach Assmann wird hier als zentrale Instanz gedacht, die nötig ist um aufklärerisch gegen ein ahistorisches Verständnis von Bildern und Kunstvermittlung anzugehen. Die Beispiele im Buch reichen von Pressebildern, Werbeanzeigen, Postkarten, Filmstills bis zu klassischen hochkulturellen Performances, Gemälden usw., zwischen denen teilweise überraschende Bezüge hergestellt werden. Allein »Plausibilität« müsse bei diesen Kontextualisierungen gewahrt bleiben um Bedeutung zu generieren.
Bering und Niehoff positionieren sich mit ihrem Modell in einer Denkrichtung, die eine vornehmliche Handlungsorientierung und Orientierung an Hochkultur in der Kunstpädagogik vermeiden will. Es entsteht allerdings ein Widerspruch zwischen der geforderten Einbeziehung affektiver Aspekte im Vermittlungsprozess und dem rein kognitiv-reflexiven Vorgehen im Hauptteil des Buches. So betrachten die Autoren Gräuel-Bilder aus dem Krieg oder stark sexualisierte Werbung aus rein bildgeschichtlichem Blickwinkel, ohne etwa emotionale Wirkungen auf junge Menschen zu berücksichtigen. Sie weisen schließlich den Bildern geradezu ein metaphysisches Eigenleben zu: »Dabei überspringen die Bilder […] mühelos die Zeiten, setzen sich über Chronologie und Kontinuität hinweg und formieren sich jenseits der Idee einer ausschließlich als Ablauf verstandenen geschichtlichen Zeit.«
Das führt auch zu ikonografischen Interpretationen, die kritisch zu betrachten sind. So ist es fraglich, ob etwa ein Porträt von Mao Tse Tung mit Nebellandschaft tatsächlich ein Beleg für »interkulturell fassbare Rezeptionsstrukturen« von deutscher Romantik sind. Gerade im interkulturellen Bereich, dem die Autoren dankenswerterweise viele Beispiele widmen, muss doch zuerst von einem »Anderen« ausgegangen werden. Hier bleiben stellenweise Belege aus.
Schließlich zeigt die Rede von der »Bilderflut« und die Warnung vor dem ahistorischen Internet die Skepsis der Autoren gegenüber der Digitalisierung, welche letztere sich freilich nicht auf Bilder beschränkt. Denn darüber hinaus sind es ja gerade kommunikative, affektive und auch ethische Aufgaben und Chancen, die sich mit der Digitalisierung verbinden, die dringend etwa im Schulalltag berücksichtigt werden müssen – und die auch Eingang finden in Modelle einer übergreifenden Medienkompetenz.
Dafür bietet das Buch eine theoretische Einführung in konstruktivistische Bild-Didaktik und eine Fülle von gelungenen Beispielen von bildhistorischen Bezügen, auch aus dem interkulturellen Bereich. So hat das Buch bei einer abstrakten Aufgabenstellung auch einen konkreten Nutzwert für kunstpädagogische Settings.