Buchrezensionen

Manfred Clemenz: Vincent van Gogh. Manie und Melancholie. Ein Porträt. Böhlau Verlag

Glühenden Farben, ekstatischen Formen. Und dennoch: Für Vincent van Gogh (1853–1890) ist Kunst Mühsal, Leiden, Krankheit und Therapie zugleich. Der Maler verortet sich selbst zwischen Manie und Melancholie, bezieht sich intuitiv auf eine Diagnose, die seit der Antike bekannt ist. Im vorliegenden Band wird der Versuch unternommen, van Goghs Leben und Werk sowie seine Kunstphilosophie aus psychologischer Sicht zu betrachten und miteinander in Verbindung zu setzen. Eine Rezension von Melanie Obraz

Cover © Böhlau Verlag
Cover © Böhlau Verlag

Ganz gleich wie viele Werke man von Vincent van Gogh gesehen hat, es reicht nicht aus. Wir kennen ihn nie wirklich, aber das Interesse ist geweckt, sich auf den Weg zu machen, um sich seiner Malerei und auch dem Menschen Vincent anzunähern. Der deutsche Soziologe, Sozialpsychologe, Psychotherapeut, Hochschullehrer und Kunsthistoriker
Manfred Clemenz bereitet den Lesern/innen den Weg, um sich von Vincent etwas mitteilen zu lassen – doch jeder muss für sich selbst entscheiden, was er davon erfährt und darin erkennt.

In seinem aktuellen Buch zeichnet der Autor das Leben des berühmten Post–Impressionisten nicht im Sinne einer Chronologie nach, sondern wendet das Augenmerk auf die brisanten Persönlichkeitsstrukturen des Genius. Darüber hinaus unternimmt Clemenz Exkursionen zu bestimmten Problematiken, welche das Umfeld und den Hintergrund der Künstlerpersönlichkeit van Gogh fokussieren.
Die zeitliche Distanz wird geschickt verringert indem der Autor seinen Protagonisten, das Künstlergenie van Gogh, oft einfach nur Vincent nennt. Der Autor betont in diesem Zusammenhang, dass »dies eine Annäherung an van Goghs eigenen Sprachgebrauch« sei, »sich stets nur Vincent zu nennen und auch so angesprochen werden zu wollen.«
Damit gelingt es, den Leser/die Leserin an einem imaginären erhabenen Kreis der Eingeweihten und Freunde teilhaben zu lassen.

Sowohl die Einsamkeit van Goghs, seine Verschlossenheit als auch sein sogenanntes Scheitern werden aufgegriffen, sind aber nicht der Mittelpunkt der psychologischen Ausführungen. Vielmehr betont Clemenz den Antrieb und die Liebe zur eigenständigen Denkweise über die Kunst. Die Depression ist nicht überlagernd, sein Genie und seine mit Energie geladene Hingabe werden so auch in den vielfältig zitierten Briefen Vincents an seinen Bruder Theo thematisiert.
Dabei setzt der Autor die Korrespondenz der van Goghs geschickt ein, unterstreicht ihren exponierten Wert, um sich so der vielschichtigen Persönlichkeit des Künstlers in der ihm ureigenen lebendigen Natürlichkeit zu nähern.

Dennoch: Das Buch ist kein detailliertes, aus der Sicht der Psychologie gesteuertes Porträt, wie man vielleicht an Hand des Untertitels »Manie und Melancholie« vermuten könnte – die stets anhaltende Experimentierfreudigkeit in seiner Malerei offenbart van Gogh hier als einen Unbeugsamen, getrieben von einer Suche nach einer ganz besonderen Lichtstimmung, die er in Arles zu finden glaubt. Nicht die Sonne darzustellen und das von ihr ausgehenden Licht sind sein Ziel, sondern die schillernde Farbgebung (z.B. in den bekannten Sonnenblumen) auf der Leinwand festzuhalten.
Nicht zufällig steht unter anderem auch das Sujet des Selbstporträts im Mittelpunkt des Buches, als Cover: Van Goghs »Selbstporträt ohne Hut« (Paris, Sommer 1887). Ein filigran, zart wirkendes Gesicht und fragend blickende Augen, die sich fast mit dem Bertachter/Innen–Blick treffen. Sein Antlitz steigt aus dem dunkeln Hintergrund hervor – es erscheint. Sein Blick wirkt nicht verzweifelt, eher sinnierend und fragend. Aber ebenso sind auch andere Lesarten von diesem Selbstporträt möglich. Darin liegt das Mysterium, das sich nicht – auch nicht nach der Lektüre des Buches – auflösen wird. Vielmehr verselbständigt sich das Ungreifbare in der Kunst van Goghs und tritt mit immer neu auftretenden Fragen zu Tage.

Als Gegenstück dazu ist das Selbstporträt van Goghs mit Filzhut auf der Innenseite des Buches abgebildet. Hier dominiert die Helligkeit der Farbe Gelb und dennoch überwiegt der herbe und zweifelnde Blick. Geist und Ausstrahlung in der sich selbst verselbstständigten Werke stehen für die Kunst schlechthin.

Aber nicht nur die Selbstbildnisse stehen im Fokus des Buches, sondern auch Werke von Paul Gauguin, Georges Seurat, Paul Signac oder Auguste Renoir – um nur einige Maler zu nennen. Ebenso werden viele Landschaftsbilder und Porträts van Goghs besprochen. Der Farbenrausch zeigt sich dabei stets als Ausweg aus der Depression, sein Lieblingsgelb als äußeres Licht, das ins innere Dunkel scheint. Dennoch lässt Clemenz viele Fragen unbeantwortet, so dass sich der Leser/in selbst den Weg zu Vincent erschließen muss. Es ist der Weg, der sich über die Farben in seinen Bildern ankündigt, die Erdtöne, das Braun und dann schließlich das helle, teilweise grelle Gelb in einer Kombination zur Bläue, die das Eigenartige in der Kunst van Goghs immer wieder auf ein Neues herausstellt.

Stets im Gespräch mit der Natur, eröffnet sich Vincent das lebendige Natürliche in einer wahren Lichtflut. Auch hier zeigt sich die psychische Verfassung des Vincent van Gogh als genialer Maler: Mensch und Natur sind für ihn Kunst, die Erhabenheit der Natur der Aufruf etwas Eigenes hinzuzufügen und »Kunst zu schaffen«. Clemenz stellt seinen Künstler facettenreich vor und es gelingt ihm, Vincent in enger Beziehung auch zu seinen Werken sichtbar zu machen. Hier ist er mehr als nur der Erleuchtete, der Märtyrer, der Sozialrevolutionär, der Selbstmörder durch die Gesellschaft oder das Originalgenie. Superlative sind für den Autor nicht entscheidend, um Vincent dem Leser/der Leserin nahe zu bringen. Einsamkeit, Hilflosigkeit und der Glaube an Gott sind die wichtigen Bindeglieder, die eine Sicht auf die Welt eröffnen, welche sich in den Werken des Genies spiegelt und sie gleichsam sublimiert.

Bemerkenswert ist, dass Vincent van Gogh hier nicht ausschließlich als Privatmensch und andererseits als Künstler vorgestellt wird – Van Gogh wird zum Kunstmenschen schlechthin. Zum stets reflektierenden und sublimierenden Charakter, der das Seelische in seinen Werken als das eigentlich Undarstellbare darstellt.
Vincent war daher nicht nur ein genialer Maler, sondern mehr – ein Erneuerer.
In diesem Sinne fungiert auch Manfred Clemenz nicht als strikter Vordenker, sondern als Anwalt des Selbstdenkens und Selbsturteilens.

Manfred Clemenz
Vincent van Gogh. Manie und Melancholie. Ein Porträt.
Böhlau Verlag Wien Köln Weimar 2020
450 Seiten
ISBN 978–3–412–51594–2

Diese Seite teilen

Besuchen Sie uns