Buchrezensionen

Oliver Meier, Michael Feller, Stefanie Christ: Der Gurlitt-Komplex. Bern und die Raubkunst, Chronos 2017

Der wohl größte Raubkunstfall der letzten Jahre war die Geschichte rund um die Kunstsammlung des Cornelius Gurlitt. Sie zog Debatten um den richtigen Umgang mit geraubten Kunstwerken im Allgemeinen und insbesondere mit von den Nationalsozialisten gestohlenen Werken im Besonderen nach sich wie kaum ein anderer Fall. Das Buch beleuchtet Geschichte, Netzwerke und Protagonisten dieses Raubkunstfalls und stellt die richtigen Fragen, wie Andreas Maurer findet.

Es war der Kunst-Thriller der letzten Jahre: Cornelius Gurlitt, Sohn des Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt, der während des Zweiten Weltkrieges offizieller Kunsthändler des Naziregimes war, reiste 2010 mit dem Zug von Zürich nach München. 9000 Euro Bargeld, bei einer Kontrolle in seiner Tasche gefunden, erweckten das Misstrauen der deutschen Behörden. Zwei Jahre später verschafften sich die Beamten Zutritt zu Gurlitts Münchner Wohnung und fanden dort 1259 Kunstwerke u.a. von Matisse, Chagall und Liebermann, allesamt gut erhalten und ordnungsgemäß gelagert. Man vermutete einen Millionen- sogar Milliardenwert. Erst 2013 kam die Causa ans Licht der Öffentlichkeit – die Geburtsstunde des »Fall Gurlitt«. Aufgrund der ungeklärten Provenienzen stellte man die komplette Sammlung pauschal unter Raubkunstverdacht und erschuf dazu die Taskforce »Schwabinger Kunstfund«. Ein Jahr danach entdeckte man in Gurlitts Haus in Salzburg ein weiteres Depot, darunter Werke von Monet, Cézanne und Pissarro. 2014 starb Cornelius Gurlitt 81-jährig – seinen Nachlass vermachte er dem Kunstmuseum Bern. Viele Fragen blieben ungelöst. Die Schweizer Institution nahm das Geschenk an, einigte sich mit Deutschland aber auch darauf, dass die Provenienzen geklärt werden müssten. Gurlitts Erben gingen gegen das Testament vor. Nach einem langen Rechtsstreit kommunizierte das Oberlandesgericht München 2016 schließlich den Endbescheid: Die Bilder kommen definitiv nach Bern ins Kunstmuseum.

So eine knappe chronologische Zusammenfassung dieses Kunstkrimis, welcher, angefeuert durch die mediale Berichterstattung die Behörden und die Bevölkerung lange nicht zur Ruhe kommen ließ. Recht und Moral im Kunsthandel und auch bei der Restitution, rückten wie nie zuvor ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Auf exemplarische Art und Weise lassen sich am »Fall Gurlitt« nämlich nach wie vor die unterschiedlichen Mechanismen von Beziehungsnetzen ebenso ablesen wie die zwiespältige Rolle, welche Kunstsammler, Kunsthändler, Museumsverantwortliche, Medien, Anwälte und selbst ernannte Interessenvertreter dabei spielten.

Das nun vorliegende Buch versucht die verworrenen Fäden rund um diesen Komplex aufzurollen, und stellt unter anderem die Fragen: Wer war Cornelius Gurlitt? Wie kam er zu dieser umfangreichen Sammlung? Oder: Wieso entschied er sich für das Kunstmuseum Bern als Endstation für seinen »Schatz«? Die dicht beschriebenen Seiten der Publikation enthalten dabei neue und überraschende Antworten: So erfährt man, dass Gurlitts Vermächtnis die Konsequenz von Netzwerken und historischen Kontinuitäten ist, und dass die Beziehungen der Gurlitt-Familie zur Schweiz, vor allem zu Bern, scheinbar enger waren, als bisher bekannt.

Verantwortlich für diese Aufarbeitung zeichnen die AutorInnen Oliver Meier, Michael Feller und Stefanie Christ, allesamt Jahrgang 1981, HistorikerInnen und zudem KulturredakteurInnen bei der »Berner Zeitung«. Mittels akribischer Rechercheleistung versuchen sie auf den knapp 400 Seiten nicht nur Gurlitts Geschichte, sondern auch jene der gesamten NS-Kunst in der Schweiz neu zu beleuchten. Als Beispiele dienen ihnen die Geschichten einiger Werke aus der umstrittenen Sammlung, darunter die »Waterloo Bridge, temps gris« (1903) von Claude Monet und das Ölgemälde »Zwei Reiter am Strand nach links« (1901) von Max Liebermann. Angereichert durch eine Vielzahl farbiger Abbildungen öffnet sich das Tor zu einem dunklen Bereich des Kunsthandels, welcher meist hinter vorgehaltener Hand diskutiert wurde und noch immer wird. Zugang zu diesem »Komplex« finden die AutorInnen auf unterschiedliche journalistische Arten: Durch klassische Berichterstattung, straffe, fundierte Dokumentation oder auch mit Hilfe von Interviews.

So äußert sich etwa Wolfgang Henze (Kurator des Ernst Ludwig Kirchner Archivs; führte mit seiner Frau Ingeborg Henze-Ketterer die Galerie Henze & Ketterer in der Berner Gemeinde Wichtrach) in diesem Buch erstmals ausführlich über den »Fall Gurlitt« und das Vermächtnis seines Schwiegervaters Roman Norbert Ketterer, der nach dem Zweiten Weltkrieg zur Kunsthändlerlegende wurde. Als weiteres Beispiel führt man auch den Raubkunstfall »Goldschmidt-Koerfer« an (der deutsch-jüdische Bankier Jakob Goldschmidt verlor im Nationalsozialismus sein Vermögen, darunter zwei Bilder von Henri de Toulouse-Lautrec; der Geschäftsmann Jacques Koerfer profitierte von diesem »Ausverkauf«; er wurde für seine Vergangenheit abgestraft) – dazu traf man die Goldschmidt-Anwältin Sabine Rudolph. Ebenso kommt auch der Berner Kunsthändler Eberhard W. Kornfeld, welcher mit Gurlitt in Geschäftsbeziehungen stand, zu Wort.

Für die Online-Generation unter den Leserinnen/den Lesern widmet man sich auch der Geschichte der Plattform www.lostart.de, eines der wichtigsten Restitutionstools. Parallel dazu ging im Zuge des Druckes auch eine eigene Homepage online: www.gurlitt.ch. Darauf wurden nochmals die Chronologie des Falles festgehalten, einige Auszüge aus dem Buch, weiterführende Links, veröffentlichte und unveröffentlichte Archivquellen, ein Medienecho mit Zeitungsartikel zur Causa und vor allem zur Erbschaft des Berner Kunstmuseum u.v.m.

Auch das Buch wagt, die Raubkunst betreffend, den Schritt in die Gegenwart – besonders die beiden im Epilog des Buches abgedruckten, kurzen Beiträge zum »Umgang mit entarteter Kunst heute« von Christoph Zuschlag und Andreas Hüneke. Angehängt daran findet der interessierte Leser eine wahre Fülle an weiterführenden Informationen – etwa einen kompletten Stammbaum der Familie Gurlitt, eine Grafik welche die Pressemeldungen bezüglich des Falles in Zahlen und Tabellen fasst, darüber hinaus ein Personenregister, eine Liste mit Händlern »entarteter Kunst«, eine Dokumentation des Handels der Galerie Kornfeld mit Cornelius Gurlitt u.v.m.

Doch was will dieses Buch nun eigentlich von seinen Lesern? Ist es ein Archiv, ist es ein Denkmal, ein Mahnmal?

Wahrscheinlich all das und noch einiges mehr – denn bis heute hallt das Echo der Sammlung und des Falls Gurlitt durch die Kunstwelt und lässt vieles unbeantwortet. Insbesondere die rechtlich fragwürdige Konfiszierung der Werke bis hin zur pannenreichen Aufarbeitung durch die staatliche Taskforce »Schwabinger Kunstfund« haben bis heute keinerlei Konsequenzen erfahren. Die Sammlung, der Umgang damit und letztendlich dieses Buch werfen nämlich gerade in dieser Beziehung zwei gewichtige Fragen auf: Was darf Restitution? Und: Ab wann wird sie selbst zum Kunstraub?

Übrigens: Ab November stellen unter dem Titel »Bestandsaufnahme Gurlitt« die Bundeskunsthalle Bonn und das Kunstmuseum Bern zeitgleich und inhaltlich eng aufeinander abgestimmt unterschiedliche thematische Schwerpunkte dieses umfangreichen Werkkonvoluts einer breiten Öffentlichkeit vor. In Bern liegt der Fokus der Präsentation auf Werken der Entarteten Kunst und auf Arbeiten aus dem Kreis der Familie Gurlitt. Die Bundeskunsthalle konzentriert sich auf Werke, die NS-verfolgungsbedingt entzogen wurden, sowie auf jene, deren Herkunft noch nicht geklärt werden konnte. Hier werden vor allem die Schicksale der verfolgten Künstler, Kunstsammler und Kunsthändler den Täterbiografien gegenübergestellt, sowie auch der beispiellose Kunstraub der Nationalsozialsten in den besetzten Gebieten thematisiert. Die Präsentationen sollen auch dazu beitragen, weitere Hinweise zu den noch offenen Provenienzen der Werke zu finden.

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