Ausstellungsbesprechungen

Oskar Schlemmer – Tänzermensch. Das Centre Pompidou in Metz präsentiert das Bühnenwerk des Bauhaus-Künstlers

Erbstreitigkeiten und Urheberrechtsprobleme und daraus resultierende Blockaden haben die Präsenz Oskar Schlemmers im Kunstbetrieb der letzten Jahrzehnte in bedauerlichem Maße eingeschränkt. Nachdem die siebzigjährige Schutzfrist abgelaufen war, konnte die Staatsgalerie Stuttgart im Jahr 2014 endlich die erste große Schlemmer-Retrospektive zeigen. Nun konzentriert sich eine Sonderausstellung des Centre Pompidou in Metz noch bis zum 16. Januar 2017 auf das Bühnenwerk des Bauhaus-Künstlers. Ein Bericht von Rainer K. Wick.

»Meine Themen,« – so Oskar Schlemmer – »die menschliche Gestalt im Raum, ihre Funktion in Ruhe und Bewegung in diesem, das Sitzen, Liegen, Gehen, Stehen, sind ebenso einfach, wie sie allgemein gültig sind. Überdies sind sie unerschöpflich.« Damit ist die Agenda eines der bedeutendsten deutschen Künstler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kurz und knapp umrissen. Schlemmers künstlerisches Anliegen galt der Schaffung eines »allgemeingültigen Typus der Gestalt« (Karin von Maur), der – so paradox dies klingen mag – »zeitgemäß«, also »modern«, und zugleich »zeitlos« sein sollte. Als Maler, Plastiker, Zeichner, Grafiker, Tänzer, Choreograf und Bühnengestalter hat er fast ein Leben lang daran gearbeitet, den Menschen in seiner essentiellen Grundform, in seiner Idealität, zu erfassen. Dies gelang ihm mit seinen eigenen Worten durch »ein zunehmendes Extrahieren von Formen und Farben, die [sich] immer mehr von der Kraft der objektiven Natur [...] entfernen, um die Kraft, die den Darstellungsmitteln innewohnt, herauszustellen.«

Fast zehn Jahre, von Dezember 1920 bis Oktober 1929, gehörte Schlemmer zu den tragenden Künstler- und Lehrerpersönlichkeiten am Bauhaus – jener progressivsten aller deutschen Reformkunstschulen der Zwischenkriegszeit, deren Profil er in einer ganz spezifischen Hinsicht geschärft hat. In seinem Nachruf für Oskar Schlemmer formulierte es der Künstlerfreund und Bauhauskollege Georg Muche so: »Er wußte offenbar – was wir alle vergessen hatten –, daß es in der sichtbaren Erscheinung der Oberflächen der Natur den Würfel nicht gibt. Wir hatten uns am Bauhaus unter das Zeichen des rechten Winkels gestellt. Das Quadrat war die bevorzugte Grundform unseres Schaffens [...] Oskar Schlemmer stellte sich unter die Zeichen der Bogen, Kurven und Kreise. Aus ihnen formte er sein Bild des Menschen im Gleichgewicht harmonischer Bewegung.«

Das alles lässt sich umstandslos seinen großartigen Gemälden, Grafiken und Plastiken ablesen, gilt aber prinzipiell auch für seine Tätigkeit als Tanzgestalter und Bühnenkünstler, wie die aktuelle, von C. Raman Schlemmer, dem Enkel des Künstlers, in Zusammenarbeit mit dem Museum in Metz kuratierte Ausstellung zeigt. Ihr Ziel ist es, »den Blick auf ein anderes Bauhaus« zu lenken, das, jenseits der berühmten Schule für Architektur und angewandte Kunst, eine zentrale Plattform für performative und choreografische Experimente der Zwischenkriegszeit darstellte.« Schon in den späteren 1910er Jahren hatte Oskar Schlemmer begonnen, sich mit dem Phänomen »Tanz« zu befassen und sein legendäres »Triadisches Ballett« zu entwickeln. Nach dem Ausscheiden Lothar Schreyers aus dem Bauhaus übernahm er von ihm im Jahr 1923 die Leitung der Bauhaus-Bühne. Institutionell eingebunden in das schulische Gesamtkonzept, bot sich ihm damit die Gelegenheit, dem am frühen Bauhaus bedeutsamen Gedanken der Überwindung der etablierten Gattungsgrenzen und des Gesamtkunstwerks Gestalt zu geben, ohne sich dabei mit einer »Dienerrolle der Architektur gegenüber« bescheiden zu müssen.

Mit seiner Bühnenarbeit stand Schlemmer im Kontext der seit dem späten 19. Jahrhundert europaweit einsetzenden Bühnenreform. Den Kern der Reform bildeten neben der Abwendung von der herkömmlichen Guckkastenbühne und bühnentechnischen Neuerungen neue Raum-Zeit-Konzeptionen, wie sie auf naturwissenschaftlicher Ebene durch Einsteins spezielle Relativitätstheorie (1905), in der Kunst durch Kubismus und Futurismus befördert wurden. So wurde etwa die Handlung in Bewegung als Ausdruck von Raum und Zeit übersetzt und der Raum selbst rhythmisiert und durch abstrakte Bühnenelemente (z.B. Podien) erfahrbar gemacht.

Das Centre Pompidou in Metz mit seinem dynamisch geschwungenen Dach, eine 2010 eröffnete Dependance des Pariser Centre Pompidou, dokumentiert in einer schnörkellosen Inszenierung den spezifischen Beitrag, den Oskar Schlemmer zur Bühnenreform des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts geleistet hat. Die Mittelachse des über 1000 Quadratmeter großen, abgedunkelten Schauraums bildet ein »Laufsteg«, auf dem die berühmten Figurinen des »Triadischen Balletts« – als Originale und/oder als Rekonstruktionen – ihren Auftritt haben, so beispielsweise »Der Abstrakte«, »Die Spirale«, »Der Scheibentänzer« oder »Die Goldkugel«. Flankiert wird diese Darbietung durch reichhaltiges dokumentarisches Material wie Skizzenbücher, Entwurfszeichnungen, Drucksachen, Masken, Fotografien und Filmsequenzen, die das Werden und auch den Wandel der Bühnenarbeit Schlemmers nach dem Umzug des Bauhauses von Weimar nach Dessau dokumentieren.

So wie es Oskar Schlemmer in seiner Malerei um die Schaffung eines kanonisch regulierten Menschentypus ging, so strebte er auch auf der Bühne jenseits psychologischer Charakterschilderungen oder der Darstellung sozialer oder politischer Gegebenheiten eine »Typisierung« durch Maske und Kostüm an. Waren die Kostüme und Masken für das »Triadische Ballett«, eine dreigliedrige Komposition mit insgesamt zwölf Tänzen, fantasievoll übersteigert und raumplastisch ausgreifend, sodass sie nur marionettenhafte Bewegungen zuließen, so trugen die Darsteller später, in Dessau, oft einfache Trikots, die ihre Beweglichkeit nicht länger einschränkten. Eingefärbt in den drei Primärfarben Gelb, Rot und Blau, sollten sie den drei Grundtemperamenten sanguinisch, cholerisch und melancholisch entsprechen. Die die Performer entindividualisierenden Masken wurden der ovalen »Grundform des Gesichts angepasst, so daß ein universaler Typenkopf entstand« (Karin von Maur), und die Bewegungen der Darsteller im Raum folgten einer strengen Tanzgeometrie, einer »tänzerischen Mathematik«, wie der Künstler es selbst ausdrückte: »Ich für mein Teil propagiere den körpermechanischen, den mathematischen Tanz. [...] Aus der Bodengeometrie, aus der Verfolgung der Geraden, der Diagonalen, des Kreises, der Kurve erwächst beinahe selbsttätig eine Stereometrie des Raumes durch die Vertikale der bewegten tänzerischen Figur. [...] Der Körper selbst kann seine Mathematik demonstrieren durch Entfesselung seiner körperlichen Mechanik. [...] Hilfsmittel wie Stangen (die horizontale Balancierstange) oder Stelzen (vertikales Element) vermögen als die ‘Verlängerungsstangen der Bewegungswerkzeuge’ den Raum in gerüstmäßig-linearer Beziehung, Kugel-Kegel-Röhrenformen ihn in plastischer Beziehung zu verlebendigen.« Obwohl Schlemmer am Bauhaus in Dessau ein großartiges experimentelles Bühnenrepertoire auf die Beine stellte (Raumtanz, Gestentanz, Formentanz, Kulissentanz, Glastanz, Metalltanz) und damit außerordentlich erfolgreich war, wurden die Karten mit der Übernahme des Direktorats durch den politisch linksgerichteten Architekten Hannes Meyer, der 1928 auf Walter Gropius folgte, neu gemischt. So schrieb Schlemmer über sein Verhältnis zu Meyer im April 1929: »Der Bühne, meiner Sache, steht er ‚persönlich‘ negativ gegenüber, will Tendenzen sozialpolitischer Natur, was mir nicht liegt. Außerdem habe ich die so restlose Anerkennung dessen, was ich anstrebe, daß kein Grund vorhanden ist, den Kurs zu ändern. Ich sage: er solle von Klee verlangen, daß er wie George Grosz tue!« Noch im selben Jahr verließ Schlemmer das Bauhaus, um an der Breslauer Akademie und, nach deren Schließung 1931, an den Vereinigten Staatsschulen in Berlin zu lehren, bis ihn die Nazis im August 1933 aus dem Dienst entließen. An die Verwirklichung weiterer Bühnenprojekte war nun nicht mehr zu denken, erst recht nicht, nachdem ihn im Jahr 1937 der Bannstrahl der »Entartung« traf.

Verglichen mit der umfassenden Schlemmer-Retrospektive in der Stuttgarter Staatsgalerie vor zwei Jahren bietet die Ausstellung in Metz nur einen begrenzten Ausschnitt aus dem breit angelegten Gesamtwerk des Künstlers. Gleichwohl ist es das Verdienst dieser Schau, die Aufmerksamkeit dezidiert auf das hochgradig innovative und auch zukunftsweisende Bühnenschaffen des Künstlers zu fokussieren, das trotz seiner eminenten Bedeutung bisher noch nicht in dieser Breite ausgestellt wurde. Bedauerlich ist allerdings der Umstand, dass das Centre Pompidou in Metz keinen Katalog herausgebracht hat. Wer sich intensiver mit dem Thema auseinandersetzen möchte, dem sei das immer noch gültige Standardwerk von Dirk Scheper »Oskar Schlemmer. Das Triadische Ballett und die Bauhausbühne«, erschienen als Band 20 der Schriftenreihe der Akademie der Künste, Berlin 1988, empfohlen.

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