Buchrezensionen

Quentin Bajac (Hrsg.): Die große Geschichte der zeitgenössischen Photographie. Von 1960 bis heute, Schirmer/Mosel 2015

Das Pferd von hinten zäumt der erste Band der MoMa-Trilogie zur Geschichte der Photographie auf. Also setzen sich Herausgeber und Kurator Quentin Bajac und seine Autoren zuerst mit den letzten 50 Jahren des Mediums auseinander und werden sodann rückwärts schreiten. Ob dieser erste mutige Schritt überzeugen kann, das verrät Walter Kayser.

John Baldessari: Hands Framing New  York Harbor, aus dem Projekt »Pier 18«, 1971 © John Baldessari, Photo: Shunk-Kender, J.  Paul Getty Trust. The Getty Research Institute, Los Angeles / Schirmer/Mosel Cindy Sherman: Untitled #466, 2008 © Cindy Sherman / Schirmer/Mosel Christopher Williams: Fig. 2. Loading the Film, 2012 © Christopher Williams / Schirmer /Mosel Shirana Shahbazi: [Composition-45-2011], 2011 © Shirana Shahbazi / Schirmer/Mosel
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Die Abkürzung »MoMa« klingt so liebevoll-salopp, als handle es sich um eine alte Dame von nebenan mit Spitzenkragen. Tatsächlich ist das Modern Art Museum, zwischen der Fifth und Sixth Avenue von Midtown Manhattan gelegen, seit der »Big Apple« endgültig Paris und London als Metropole des Kunstmarktes abgelöst hat, so ziemlich das Maß aller Dinge. Das gilt generell für moderne und zeitgenössische Kunst, vielleicht aber noch mehr für das dortige »Department of Photography«. Dieses umfasst mehr als 30 000 Werke, eine Sammlung, die seit 1929 systematisch aufgebaut wurde. Unvergesslich waren die frühen großen Einzelausstellungen eines Walker Evans (1938) oder die anderen regelmäßigen Gruppenausstellungen des ersten Direktors dieser Abteilung John Szarkowski. Dieser erscheint aber seinem heutigen Nachfolger Quentin Bajac, wie behutsam und zugleich unverkennbar zwischen den Zeilen deutlich wird, in seinem Photographieverständnis als zu formalistisch und eng. Unvergessen war auch die im Jahre 1955 unter dem Titel »The Family of Man« gezeigte Ausstellung, die auf Initiative des Kurators Edward Steichen zustande kam und mittlerweile zum »Weltdokumentenerbe« gezählt wird. Sie umfasste 503 Photographien von 273 Künstlern aus 68 Ländern. Kurzum, immer setzte das MoMa Maßstäbe.

Wenn nun das Museum es erstmals unternimmt, sämtliche photographischen Schätze in einem auf drei Bände konzipierten Überblickskatalog zu sichten und als Gesamtes zu präsentieren, dann versteht sich von selbst, dass eine herausragende Veröffentlichung zu begrüßen ist. Dieser Überblick über die Bestände beginnt aber ungewöhnlicherweise mit dem Band über die zeitgenössische Entwicklung der letzten 5 Jahrzehnte. Das ist erstaunlich. Und es wirkt insofern besonders ambitioniert, als der Fisch, der im Meer schwimmt, bekanntlich nicht weiß, was Wasser ist, - will sagen: Zur kunstgeschichtlichen Methodik gehört es in aller Regel, dass man unbedingt die Stallblindheit gegenüber dem Fluidum der unmittelbaren Gegenwart erst überwindet, wenn man abwartet, bis sich aus zeitlichem Abstand Stilmerkmale und Tendenzen abzuzeichnen beginnen. Aus Tradition und Kontinuität entsteht erst das Bewusstsein für die Qualität des Neuen oder, noch allgemeiner und frei nach Kierkegaard: Wir leben in der Gegenwart und hauptsächlich um das Morgen besorgt, verstehen tun wir dieses Leben aber nur im Nachhinein, wenn wir uns der Vergangenheit zuwenden.

Bei diesem Projekt geht man also vom Heute aus und erst danach in die Geschichte zurück, denn nach der Gegenwart soll der zweite Band die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts thematisieren, um dann mit dem dritten Band bis zu den Anfängen des Mediums zurückzuführen. Vielleicht liegt dieser ungewöhnliche konzeptionelle Schritt auch in der einschneidenden künstlerischen Revolution der letzten Jahrzehnte begründet, haben sich doch sozusagen Photographen und Künstler gegenseitig entdeckt – von den Massenmedien und der Explosion des Bildjournalismus durch den Wettlauf von analoger und digitaler Photographie ganz zu schweigen. Anders ausgedrückt, Photographie hat sich längst von dem Anspruch befreit, das Medium der Wirklichkeitsvergewisserung zu sein. Hundert Jahre nach der Malerei ist sie jetzt in einem analogen Stadium angekommen, das immer deutlicher die Eigenständigkeit und Autonomie dieses Mediums erahnen lässt.

Wie auch immer, Quentin Bajac, der Chefkurator für Photographie am MoMA und Herausgeber dieser »Großen Geschichte der zeitgenössischen Photographie von 1960 bis heute«, tritt mit diesem kenntnisreichen Meisterwerk in die Fußstapfen seiner namhaften Vorgänger Newhall und Steichen, Szarkowski und Galassi, die ebenfalls mit photogeschichtlichen Abhandlungen geglänzt haben.

Noch ambitionierter erscheint der in seinem Einleitungstext geäußerte Anspruch, das noch nicht ganz überblickbare Terrain und ebenso breite Spektrum von sich überschneidenden Bereichen zu sichten, um auf diese Weise die vielfältigen Erscheinungsformen der zeitgenössischen Photographie miteinander interagieren zu lassen und so zum Ausgangspunkt für künftige Möglichkeiten zu machen. In den Dschungel der zeitgenössischen Photographie erhellende Sichtschneisen zu schlagen, ist in jedem Fall verdienstvoll und umso schwieriger, als niemals zuvor auch nur annähernd so wild in der Gegend herumgeknipst wurde, wie das heutzutage täglich von jedermann getan wird. Was unterscheidet also die Massenware von künstlerisch herausragenden Leistungen? Ist es nur der bewusste Einsatz von Bildausschnitt, Lichtqualität und Bezug zur Realität? Das vom Münchner Schirmer/Mosel-Verlag vorbildlich edierte Buch schlägt vor, acht solche Sichtschneisen in das Dickicht der zeitgenössischen Photographie zu legen. Ob damit die wichtigsten Strömungen adäquat erfasst wurden, bleibt vorerst abzuwarten.

Mit einer gewissen Plausibilität ist das erste Kapitel mit »Die Dokumentar-photographie nach The Americans« überschrieben. Denn die gleichnamige Veröffentlichung des legendären Robert Frank datiert in das Jahr 1959. Frank hatte Jahre gebraucht, um überhaupt für sein Buch einen Verlag zu finden. Aus heutiger Sicht grotesk unverständig und heftig waren die Reaktionen seitens der damaligen Kritik: zu schlampig, zu schäbig und nicht zuletzt zu »unamerikanisch« sei der Blick auf die eigenen Landsleute. Nicht zuletzt wegen dieses Wendepunktes versammeln die Kuratoren der New Yorker Ausstellung eine ganze Gruppe von (sehr eigenständigen) Nachfolgern unter diesem Deutungsansatz: »dokumentarisch« steht dabei für die Aufzeichnung des Gewöhnlichen aus einer scheinbar neutralen Perspektive, für Aspekte des Alltäglichen und Trivialen (nicht nur) der amerikanischen Kultur, die sich oft genug als eine zivilisatorische Verwüstung darstellt. Wenn man aber die einzelnen Photos betrachtet und bemerkt, dass jeder Künstler (fast ausnahmslos) nur mit einem einzigen Bild repräsentiert wird, dann muss man sich schon hier fragen: Geht das überhaupt? Kann man etwas als Typisches erfassen, ohne das tertium comparationis der Vergleichsbeispiele ermitteln zu können? Wird das der Subsummierung unter einem Leitthema gerecht? Auch noch dann, wenn es sich um durchweg großartige Photographen handelt, deren jeder für sich ein einzigartiges Werk geschaffen hat: Diane Arbus, Garry Winogrand, Lee Friedlander, Robert Adams William Eggleston (um nur einige zu nennen)? In summa: 642 Abbildungen von 255 international renommierten Photographen aller Gattungen und Stilrichtungen. Der Verdacht steigt auf, dass sich das alles beim besten Willen (noch) nicht auf einen trennscharfen Begriff bringen lässt, und zwar umso weniger, als in aller Regel jeder einzelne dieser Meister für sich stilbildend gewirkt hat.

Dieses grundsätzliche Unbehagen wird man beim Durchblättern des Bandes nicht los; man denkt vielmehr an die bekannte Redensart von dem Wald und den vielen Bäumen. Möglicherweise ist das allerdings nicht dem MoMa, noch den Autoren, noch gar den Künstlern anzulasten, sondern deutet lediglich zurück auf den ungeheueren Reichtum dieser New Yorker Sammlung und des qualitativ in Blüte stehenden Mediums.

Das dritte Kapitel ist mit »Körperspuren, Körpergesten« überschrieben. Unter dieser wohl vorsorglich bewusst vagen Betitelung versammelt es vor allem Performances, die den Körper als Medium und Material eines Live-Ereignisses benutzten. Photographie wurde also im Wesentlichen dazu benutzt, das Immaterielle in seiner Flüchtigkeit der Nachwelt bewahren zu helfen. Eröffnet wird es von jenem legendären Bild, das Yves Klein an jenem grauen Tag des Jahres 1960 zeigt, wie er für das Titelblatt der »Dimanche - Le Journal d’un seul jour« mit nach oben gerecktem Kopf und herausgestreckter Brust einige Meter über dem harten Teer einer Straße in Fontenay-aux-Roses waagrecht in der Luft schwebt. Jeder, der dieses Bild zum ersten Mal gesehen hat, kann es nicht vergessen. Jeder wird für immer fasziniert sein von diesem halsbrecherischen, traumtänzerischen Freiheitsakt. Hier ist der moderne Künstler, wenn auch nur für einen winzigen Augenblick, in seinem Wolkenkuckucksheim zu Hause, - radikal losgelöst, schwerelos, jeglicher irdischen Bedingtheit entledigt. Was der Betrachter nicht ahnt: Klein hatte zwei Profiphotographen bestellt. Auch etliche Schüler der örtlichen Judo-Schule mussten am Tatort erscheinen und nach den besorgten Anweisungen von Kleins Ehefrau eine Plane spannen, in welcher der Künstler landen konnte, ohne sich unweigerlich das Genick zu brechen. Etliche Photos wurden an jenem Tag geschossen, aber erst die gelungene Montage ergab den illusionistischen Eindruck einer atemberaubenden Performance. – Das Photo ist exemplarisch, denn wo ist hier die glaubwürdige Grenzziehung zwischen der »Dokumentation« des »Momentum« und »Konstruktion« einer inszenierten eigenen Realität?

Zu vielfältig und zu eigenständig sind auch die gut dreißig Photokünstler, die im folgenden Kapitel zusammengefasst werden. Diesmal versucht es eine plausible einheitliche Deutungsrichtung unter dem Vorhaben des »Realitätschecks« zu geben. Gemeint ist damit das Hinterfragen vor allem massenkultureller Werbe-Artefakte und vorgefundener Rollenbilder. Natürlich darf hier Cindy Shermans Selbsterprobung in klischeehaften Frauenrollen nicht fehlen, wie sie immer wieder in Serien wie »Untitled Film Stills« (1977-1980) inszeniert wurden.

Wenn dann im nächsten Kapitel Nicholas Nixons berühmte Serie über die »Brown Sisters« , die, Jahr für Jahr, seit 1975 besteht (und noch zu keinem Ende gekommen ist), wenn gleichzeitig solch prominente Namen auftauchen wie Rineke Dijkstra oder Andreas Gursky (und so könnte man fortfahren), dann wird auch hier deutlich: Immer wieder bewegt sich zeitgenössische Photographie zwischen den Polen einer wie auch immer dokumentierten Realität und dem Neuerschaffen einer neuen Fiktionalität, die das hinter sich lässt, was man einfangen kann. Allerdings, den Reichtum an Erscheinungsformen unter einen begrifflichen Hut zu bringen, das ist sehr schwierig!

Im letzten Abschnitt, überschrieben mit »Von der Dunkelkammer zum Laptop«, wird noch einmal der Bogen zurück zur klassischen Moderne und den Montagen und Photogrammen von Künstlern wie Raoul Hausmann, Hannah Höch, John Heartfield, Man Ray, László Moholy-Nagy geschlagen. Es geht um die neue Lust am Experimentieren, um die Vorgänge der Abbildungsverfahren, Verbreitung und Ausstellung selbst, mithin: um die Bedeutung der kameralosen Photographie und der Appropriationen, sei es durch das Aufschlitzen oder Zerkratzen oder das unmittelbare Belichten von Photopapieren.

Dieses Buch ist gewiss beeindruckend und Maßstab setzend. Man darf gespannt sein auf die beiden Folgebände. In seiner Durchdringung und kritischen Analyse eines (um es photographisch auszudrücken) Gegenwartsbildes, das sich kaum in seinen Konturen fixieren lässt, ist dieser Band allerdings etwas weniger überzeugend als in der beeindruckenden Weise, wie hier ein Spektrum an aktuellen Werken dargeboten wird. - Allein hinsichtlich seines Umfangs und der Qualität ein beeindruckendes wie beispielloses Bildlexikon der Gegenwartsphotographie.

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