Buchrezensionen

Stefan Roller u.a. (Hrsg.): Fantastische Welten. Albrecht Altdorfer und das Expressive in der Kunst um 1500, Hirmer 2014

Natürlich war es das Genie eines Albrecht Dürer, das die deutsche Kunst um 1500 beherrschte, aber es gab es eine Reihe nur wenig jüngerer und ziemlich bedeutender Künstler, die einen anderen Weg als der Nürnberger Meister einschlugen. In ihren Arbeiten spielt das Expressive eine entscheidende Rolle. Eine Ausstellung im Städel stellte Kunstwerke vor, die uns mit ihrer Originalität wie mit ihrem künstlerischen Ernst noch heute in ihren Bann schlagen können. Stefan Diebitz hat den Katalog gelesen.

Selbst der zeitgenössische Betrachter empfindet die Ölgemälde eines Albrecht Altdorfer als kühn, besonders wegen ihrer oft spektakulären Farbgebung, aber auch wegen ihrer ungewöhnlichen Perspektiven oder der Bedeutung der Natur. Ein zwischen Weiß und Gelb changierender Morgenhimmel, vor dem ein gelängter Christus steht, fesselt den Blick ebenso wie romantische Ruinen, die als Staffage für die Heilige Familie dienen. Dem Thema der Ausstellung entsprechend sind auch andere Arbeiten als die von Altdorfer emotional bis zum Äußersten aufgeladen und werden von den meisten Betrachtern als direkt antiklassisch empfunden.

Der Katalog bietet ein eigenes Kapitel allein zu ungewöhnlichen Perspektiven bei Kreuzigungen, die mal von der Seite erfasst werden, mal einen ganzen Wald von Kreuzen bilden. Wahrscheinlich war es die Wittenberger Werkstatt von Lucas Cranach d. Ä., auf die dieses Motiv zurückgeht. Wolf Huber ging noch weiter, als er Golgatha als einen zeitgenössischen Galgenberg darstellte; das Grauen, das seine schwarzgraue Zeichnung einfängt, ist wirklich unerhört und kann uns zeigen, wie die Menschen jener Zeit solche Orte gesehen haben mögen. Die christliche Motivik all dieser Bilder lässt natürlich so wenig Zweifel an ihrer Distanz zu uns zu wie das Personal in Landsknechtkleidung und entsprechenden Waffen, aber es gibt auch Momente an ihnen, die sie direkt modern erscheinen lassen; ich selbst finde, dass das einerseits bei den Silberstiftzeichnungen auf farbigem Papier, andererseits bei den Gemälden besonders deutlich wird. Dagegen scheinen die Holzschnitte viel eher einer fernen Zeit verpflichtet.

Dass ein so ungewöhnlicher Künstler wie Albrecht Altdorfer nicht allein stand, ist vielleicht nicht jedem geläufig, aber tatsächlich besaß er Kollegen wie Wolf Huber, den Bildschnitzer Leinberger und andere, die sehr ähnliche Tendenzen verfolgten, wenngleich sie trotz ihrer Begabung seinen künstlerischen Rang nicht ganz zu erreichen vermochten. Zweifellos sprechen uns aber auch ihre Arbeiten noch an, und es liegt nahe, sie in einer Gruppe zusammenzufassen. Lange Zeit geschah das unter dem Titel »Donauschule«.

Das allerdings ist ein fragwürdiger Titel, der besonders in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg Konjunktur besaß. Dass es sich um einen politischen Begriff handelt, wird sofort erkennbar, wenn man die historischen Zusammenhänge bedenkt. Denn es waren rechtsnationale Kreise, die ihn benutzten, um eine bayrisch-österreichische Kunst zu bezeichnen. So hatte dieser Name besonders 1938, also nach dem »Anschluss« Österreichs, seine Konjunktur. Kein Wunder, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Begriff kaum noch eine Rolle spielte. Und die große Ausstellung im Städel wendete sich sogar direkt gegen ihn, denn sie sieht die expressiven Tendenzen jener Jahre nicht etwa als eine nationale Eigenart oder als ein bayrisch-österreichisches Spezifikum, sondern stellt sie in einen europäischen Kontext, der nicht zuletzt durch das neue Medium der Druckgraphik hergestellt wurde. Dazu betont sie nicht etwa den Gegensatz zu Dürer, sondern zeigt immer wieder, dass auch der Nürnberger Meister Strategien des Expressiven verfolgte, die seinen jüngeren Kollegen als Anknüpfungspunkte dienen konnten.

In drei Essays und in den fünf gehaltvollen Kapiteln des Kataloges wird die vielschichtige Thematik in sehr anregender und immer differenzierter Weise aufgefächert. Guido Messling untersucht das Humanistische in der Kunst Albrecht Altdorfers und hinterfragt vorschnelle Kategorisierungen, indem er auf Beziehungen zu verschiedenen Künstlern und Philosophen verweist. Besonders interessant ist der Hinweis auf den Wiener Dichter und Humanisten Konrad Celtis, der einerseits wichtig gewesen ist als einer der ersten, die überhaupt nationales Empfinden artikulierten, der aber andererseits einen Pantheismus vertrat, dessen Spuren sich auch noch in Bildern Altdorfers zu finden scheinen.

In seinem Aufsatz über Albrecht Altdorfer und den Schnitzer Leinberger fasst Matthias Weniger die Gemeinsamkeiten der beiden Künstler zusammen und kann auf diese Weise einige Gründe benennen, warum sie uns noch heute so wichtig sind: »Zunächst der Bruch mit den bis dahin weitgehend verbindlichen Traditionen. Eine große Freiheit im Umgang mit den überlieferten Bildgattungen und Kompositionsweisen. Der Verzicht auf die überkommenen gotischen Schönheitsideale. Eine neue Form der Landschaftswiedergabe und die Suche nach dem vermeintlich authentischen Marienbild. Aber auch Übereinstimmungen in der konkreten formalen Gestaltung, insbesondere in der Zeichnung der Gewänder. Und nicht zuletzt die Dominanz der Linie.«

Susanne Jaeger behandelt die damals blühende Bischofsstadt Passau, die in ihren Mauern zwei bemerkenswerte Künstler beherbergte, Wolf Huber und den Meister IP, einen Maler und einen ebenso bedeutenden, für uns aber leider anonymen Bildschnitzer. Sie mögen in der Provinz gesessen haben, doch betont die Autorin die Vielzahl der ihnen von fern zuströmenden Anregungen: »Graphik der norditalienischen Künstler, Bilderfindungen Mantegnas, Botticellis und Raffaels, aber auch die Graphik Schongauers, Dürers, Cranachs und Altdorfers.«

Die fünf Kapitel des Kataloges sind den »Bildern des Menschen« gewidmet, den »Schrägen Ansichten bei Kreuzigungen«, der »Landschaft als Ausdrucksträger«, den »Mitteln des Expressiven« und endlich den Darstellungen des Heiligen Christophorus. Die Bedeutung der Bildschnitzerei, die in der Vergangenheit nicht immer erkannt und gewürdigt wurde, wird in fast allen Beiträgen betont. Besonders dankbar wird man für die schönen und gekonnten Abbildungen dieser Werke sein, die sowohl ihrer manchmal delikaten Farbigkeit als auch ihrer Plastizität gerecht werden; letzteres ist auf einem Foto natürlich besonders schwierig.

Die (nur scheinbare?) Nähe, die viele dieser Bilder für uns zu besitzen scheinen, hängt sicherlich auch mit der Bedeutung der Landschaft zusammen. Altdorfer gilt heute als der erste Künstler, der die Landschaft als autonomes Bildthema entdeckte, aber andere taten es ihm nur wenig später gleich, und Katrin Dyballa betont die Eigenständigkeit Wolf Hubers. Ein Einfluss Altdorfers erscheint ihr als »unwahrscheinlich«, der zahlreichen offensichtlichen Parallelen der Motive zum Trotz. Und allerdings, bereits die Farbigkeit ist eine ganz andere. Besonders eindrucksvoll sind Hubers Federzeichnungen von Kopfweiden, die uns ganz unmittelbar mit ihren steil in den Himmel schießenden Wassertrieben ansprechen. Von Altdorfer kennen wir ebenfalls Kopfweiden, aber seine Bäume biegen sich derart gelenkig nach rechts, dass Dyballa von einem »ostentativ dynamisierten Baumpaar« sprechen kann.

Auch sonst finden sich im Werk Altdorfers eindrucksvolle Darstellungen einzelner Bäume, aber vor allem hat ihn der Wald fasziniert oder überhaupt das Ineinanderwachsen zahlreicher Pflanzen – er schuf einige Bilder, auf denen der Betrachter lange suchen muss, bis er das eigentliche Motiv findet. Gelegentlich ist das zentrale Thema eines Bildes die Perspektive, zum Beispiel bei Altdorfers »Landschaft mit Brücke«. Eigentlich ist dieses eher kleine Gemälde das Gegenbild zur »Alexanderschlacht«, denn wenn dort die Welt – das Mittelmeer! – und mit ihm welthistorisches Geschehen aus der Vogelperspektive gesehen wird, so führt der Maler einen wackeligen Holzsteg aus der Froschperspektive vor.

Der schöne Katalog macht mit einer Reihe teils wenig bekannter, aber allesamt interessanter, oft auch bedeutender Künstler bekannt; und er wirft ein neues Licht auf die vielleicht aufregendste und innovativste Epoche der deutschen Kunst.

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