Rezensionen, Buchrezensionen

Kia Vahland: Gartenreich Wörlitz. Ausflug in eine Utopie. Insel Verlag

Für Menschen mit ausgeprägter Neigung zur Bibliophilie ist und bleibt die Geschichte der ehemals Leipziger Insel–Bändchen ein verlegerisches Sahnestück. Seit mehr als einhundert Jahren hat sich die seinerzeit (wohl auf Anregung von Stefan Zweig) von Anton Kippenberg begründete Tradition anspruchsvoller Buchgestaltung gehalten. Dabei wurde das Verlagshaus mit dem Peter Behrens'schen Jugendstilsignet eines zweimastigen Fregattenseglers zwar deutlich von den wechselnden Winden und Unwettern der deutschen Geschichte gebeutelt und gezeichnet; gleichwohl ist es wie durch ein Wunder doch gelungen, das kleine Schiff des Verlages weitgehend unbeschadet durch alle stürmischen Gezeiten von Weltkriegen, Inflationen und deutscher Teilung, Umzügen und Aufkäufen hindurchzumanövrieren. Für Walter Kayser war das ein Anlass, sich eines der neuesten Bändchen mit der Nr. 1499 zum »Wörlitzer Gartenreich« zu Gemüte zu führen.

Cover © Insel Verlag
Cover © Insel Verlag

Es ist schon erstaunlich, dass die Insel–Bändchen bei mittlerweile anderthalb Tausend Exemplaren im Großen und Ganzen dem charakteristischen Programm treu geblieben sind: eine edle Ausstattung mit dem typischen Titelschild auf festem Pappeinband mit zumeist farbigen Musterpapieren, eine exquisite Typografie – kurz: große Buchkunst im kleinen Format zu durchaus erschwinglichem Preis. Die vorzügliche Gestaltung machte Generationen nicht nur mit Kleinoden der Dichtung und Musikgeschichte bekannt, sondern auch mit Naturdarstellungen, Faksimiles und Textsammlungen der Märchen– und Sagenwelt. Nicht zuletzt Werke der Kunstgeschichte wurden so immer wieder einem breiten Leserkreis vorgestellt. Von Anfang an, das heißt seit Rainer Maria Rilkes berühmt–berüchtigter »Cornet« 1912 mit der Nummer 1 »reitet und reitet und reitet«, hat Kippenberg die namhaftesten Gestalter, Illustratoren und Holzschneider einbezogen. Ein illustrer Kreis, darunter Ludwig Richter, Moritz von Schwind, Heinrich Vogeler, Aubrey Beardsley, Alexander Olbricht oder Frans Masereel. Alles konnte höchsten buchästhetischen Ansprüchen gerecht werden. Vor allem wegen dieser optisch attraktiven Aufmachung, aber auch wegen des inhaltlichen Anspruchs und der vielfältigen Varianten bei der Ausstattung entwickelten sich die »IBs«, wie sie bald liebevoll genannt wurden, sehr schnell zu beliebten Sammlungsobjekten mancher Privatbibliothek.
Nun also ein Bändchen zum Wörlitzer Park.

Man muss nicht unbedingt nach England fahren, nach Stowe, Stourehead, Richmond Park, Kew, Sissinghurst oder Sudeley Castle, um schöne englische Gärten zu sehen; und man muss auch nicht nach Venedig, Rom oder den Golf von Sorrent fahren, um verspielte gotische Kielbögen, antike Tempietti oder einen Feuer spuckenden Vesuv zu bewundern. Das alles gibt es auch im Hinterland von Sachsen–Anhalt, an den ruhigen Flussauen der mäandernden mittleren Elbe, ziemlich genau zwischen Dessau und Wittenberg, wenige Minuten abseits der A9. Der Wörlitzer Park ist nur ein Teil eines »Gartenreichs«, und wie jeder Garten auf seine Weise ein Nachfahre des Urbilds schlechthin, des paradiesischen Eden. Wer Gärten anlegt, arbeitet sich ja immer an einem Paradox ab: Er versucht einen vollkommenen Ort zu schaffen – und heraus kommt doch stets nur ein Annäherungswert, eine »Utopie« eben, also ein prinzipiell »nicht existenter Ort«.

Cover @ Kia Vahland
Cover @ Kia Vahland

Der außergewöhnliche Wert des Wörlitzer Parks war auch der früheren DDR–Regierung bewusst. Sie stellte bereits den Antrag, man müsse diesen unbedingt in den Rang eines universellen UNESCO–Weltkulturerbes erheben. Das geschah dann endlich im Jahr 2000.
Wer auch immer sich über diesen vielleicht schönsten Landschaftsgarten Deutschlands schreibt, beginnt gewöhnlich mit dem Olympier Goethe. Der ist nämlich der ideale Kronzeuge, wenn man jemanden mit der eigenen Begeisterung anstecken möchte: »Mich hat’s gestern Abend, wie wir durch die Seen, Kanäle und Wäldchen schlichen, sehr gerührt, wie die Götter dem Fürsten erlaubt haben, einen Traum um sich herum zu schaffen. Es ist, wenn man so durchzieht, wie ein Märchen, das einem vorgetragen wird, und hat ganz den Charakter der elysischen Felder.« Das schrieb er am 14. Mai 1778 an Charlotte von Stein. Der damals 29–Jährige war Teil einer Delegation auf diplomatischer Mission, denn kleine Fürstentümer wie das von Sachsen–Weimar oder eben das des jungen Fürsten Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt–Dessau (für den übrigens später an der Ilm in Weimar ein Gedenkstein aufgestellt wurde) mussten sich strategisch verbünden, um nicht im Bayerischen Erbfolgekrieg zwischen die Räder der streitenden Großmächte Preußen und Habsburg zu gelangen.

Cover © Kia Vahland
Cover © Kia Vahland

Hinter Goethes ästhetischer Schwärmerei stand eine politische Vision. Nach den »französischen« Barockgärten, in welchen selbst die Natur in all ihren Erscheinungen exemplarisch zugerichtet, ornamental gefasst und ganz und gar als etwas erscheinen sollte, was dem Willen des absoluten Herrschers unterworfen war, wurde der englische Landschaftsgarten zum Sinnbild eines »Gartens der Freiheit«. Nicht nur für Goethe, für sehr viele Dichter und Denker des 18. Jahrhunderts, war der Traum von einsichtigen, reformwilligen, auf ihre Willkürmacht weise verzichtenden, aufgeklärten Monarchen näherliegend als die Aussicht auf eine gewaltsame Revolution. Ihrer Vorstellung von einer freien und humanen Gesellschaft, aber auch ihrer Resignation darüber, dass sie den politischen Entwicklungen nicht Paroli bieten konnten, gaben fortschrittliche Aristokraten in der Gestaltung eines ganz neuen Gartentypus Ausdruck: Der vorgeführten Zurichtung und Domestikation des geregelten Gartens setzten diese eine neue, sich weiträumig öffnende Anlage gegen den absolutistischen Geist entgegen. Statt der Zirkelspiele und in jeder Beziehung vollendeten Künstlichkeit ging es um Gedankenspaziergänge, überraschende Mannigfaltigkeit und Mitbestimmung. Das »Natürliche« wurde in der Tradition Rousseaus zum Kampfbegriff. So wollte Fürst Franz Leopold in Wörlitz das umsetzen, was er auf den zahlreichen Stationen seiner Kavalierstouren und nach seiner Demission aus dem preußischen Militärdienst in England, Frankreich, Italien und Holland kennen gelernt hatte. Ihm schwebte von Anfang an etwas besonders Umfassendes und Exemplarisches vor. Das kleine Fürstentum sollte kulturell und ökonomisch mustergültig zeigen, wozu eine »aufgeklärte Herrschaft« in der Lage ist. Insofern mag er dem Schriftsteller Goethe vor Augen gestanden haben, als er in seinem »Wilhelm Meisters Lehrjahre« die Utopie eines sich mit dem Bürgertum verbrüdernden Reformadels entwarf. Denn die reformerischen Träume von Fürst Franz erstreckten sich auf alle möglichen Lebensbereiche: auf das das soziale Leben, die Bildung, die Gesundheitsvorsorge wie auf die Ökonomie und die ästhetische Schulung seiner Untertanen. Damit lässt er auch das Konzept des Gartens als einem »begehbaren Landschaftsgemälde von höherer Vollkommenheit«, wie sie dem Theoretiker C.C.L. Hirschfeld vorschwebte, hinter sich. Eine zur (wenngleich dreidimensionalen) Kulisse degradierte und ästhetisierte Natur wird überwunden, indem den Menschen deren Nutzen in Obst– und Maulbeeranlagen vorgeführt wird.

Cover © Kia Vahland
Cover © Kia Vahland

Kia Vahland, die Verfasserin dieses kleinen Insel–Bändchens, ist Kunstgeschichtlerin. Sie hat seinerzeit bei Martin Warnke promoviert, war lange Redakteurin der Zeitschrift »ART« und arbeitet heute im Feuilleton der »Süddeutschen Zeitung« sowie als Dozentin an der LMU in München und anderen Universitäten. Doch ihr leicht und gekonnt essayistisch geschriebener Text stellt nicht das Kunstgeschichtliche in den Vordergrund. Die Autorin richtet sich vielmehr an all diejenigen, die als Reisende das Wörlitzer Gartenreich besuchen wollen. Immer wieder betont sie, wie beschaulich, wenig aufdringlich und entschleunigend hier zu allen Jahreszeiten eine erholsame »Auszeit im Anderswo« immer noch zu wirken vermag. Ganz so wie ein Flaneur sich immer wieder von neuen Ausblicken, Sichtachsen und »Eye–Catchern« überraschen lässt, reiht die Autorin zahlreiche Hinweise und Informationen an– und ineinander. Dieser locker verflechtende Stil verbindet die markanten Sehenswürdigkeiten der Gartenanlage, das Außen, auch mühelos mit einer Präsentation der Inneneinrichtungen der verschiedenen Gebäude; und da Vahland überwiegend als Erzähltempus das historische Präsens wählt, können auch Vergangenheit und Gegenwart unmerklich zusammenfließen.
Dabei erleichtert ein dreifacher Orientierungsrahmen, jederzeit den Überblick zu behalten: zum einen die vielen Bilder, dann ein zweiter Hauptteil, der systematisch die Sehenswürdigkeiten nach den vier Himmelsrichtungen zuordnet, und schließlich ein Übersichtspan, der leicht zugänglich auf die Innenseiten des Pappeinbands gedruckt ist. So ist das Büchlein bestens geeignet, um daheim im Lesesessel eine Phantasiereise zu unternehmen, es lässt sich aber auch als Führer vor Ort verwenden.

Die Verfasserin verschweigt zudem keineswegs, wie sehr nach dem Hochwasser von 2002 mittlerweile (und weitaus gravierender) die anhaltende Dürre der letzten Jahre dem in allem Teilen nun wunderbar instandgesetztem Wörlitzer Park zusetzt. Die 460 Gehölzarten und 120 Vogelarten, die den gegenwärtigen Reichtum ausmachen, werden sich auf absehbare Zeit nicht halten lassen. Aber Paradiese haben es nun mal an sich, dass sie keine dauerhafte Bleibe darstellen.

Titel: Gartenreich Wörlitz. Ausflug in eine Utopie
Autorin: Kia Vahland
Verlag: Insel Verlag, Insel–Bücherei Nr. 1499, Berlin 2022
85 Seiten
ISBN 978–3–458–19499–6

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