Ausstellungen sind vielerorts noch immer geschlossen. Online eröffnet sich aber eine ganz neue Welt, denn mit »Geoästhetik« hat Kurator Rolf Schönlau (*1950) nun einen Katalog zu einer imaginären Ausstellung ins Netz gestellt. Der exzentrische Blick auf unsere Erde verschränkt dabei Kunst und Wissenschaft, poetisches Denken und nüchterne Befunde. Exponate und Begleittexte werden dabei zu gleichrangigen Komponenten und erklären, kommentieren und deuten sich gegenseitig. Axel Kahr hat sich eingeloggt.
»Weltwahrnehmung«, so überschreibt Rolf Schönlau den Einführungsessay im Katalog seiner imaginären Ausstellung Geoästhetik, seit Ende 2020 online. Auch in der fiktiven Eröffnungsrede greift der Kurator nach den Sternen, wenn er sie, in Anspielung auf Uwe Johnsons Testament, »Für wenn mal eröffnet wird« nennt. Aus der Literatur kommen auch seine Gewährsleute: Für das Vorwort hat er Jean Pauls Luftschiffer Giannozzo eingespannt, für
das Nachwort einen seiner eigenen Protagonisten, Simon Reese aus dem dystopischen Hörspiel Das Hibernat. Der eine schaut zwei Jahrhunderte nach seiner Ballonfahrt auf einen Flugzeugfriedhof, der andere auf die Karte der Landverluste, die infolge der Erderwärmung zu erwarten sind.
Es geht also ums Ganze. Und das nicht erst seit 1968, als die Crew der Apollo 8 den Fotoapparat nicht auf den Mond als Ziel der Mission richtete, sondern auf deren Ausgangspunkt und so das ikonische Bild von der aufgehenden Erde schoss. Dass das Nachdenken über die Gestalt unseres Planeten schon immer im Fokus stand, belegt die Ausstellung mit 30 Exponaten quer durch die Geschichte des Abendlandes – Karten, Fotos, Grafiken, Gemälden, Zeichnungen, Romanauszügen, Parolen und Soundtracks.
Die Exponate sind mit Schlagworten versehen, in der Art von Werbeslogans. Über einer Weltkarte von 1472 steht »Logo der Erde«, über einem Stich mit einem Wanderer am Weltenrand »Blick in den Maschinenraum«, über einer Europakarte »Kuss der Kontinente«, weil ein gedachter Mondbewohner so etwas in die Flecken auf der Erde hineinlesen könnte. Die Autoren für die Begleittexte wurden im Hinblick auf einen möglichst fachfremden Zugang zu den Exponaten ausgewählt: Ein Dermatologe beschreibt Verletzungen der Erdhaut durch
den Abbau von Bodenschätzen, ein Landvermesser nimmt sich Dantes Hölle vor, ein Psychologe entwirft eine Typenlehre anhand der Vorlieben für bestimmte Kartenprojektionen, ein Akustiker hört Walter de Marias »Vertikalen Erdkilometer« ab, ein Landschaftsarchitekt kritisiert die Kammlagen der Mittelgebirge. Die Blickrichtung der Geoästhetik ist exzentrisch – von hoch oben, tief unten oder weit draußen.
Auch fehlen nicht die Modelle, die man sich gemacht hat, um die »wahrnehmungsästhetischen Zumutungen« der Kopernikanischen Wende fassbar zu machen – von Globen für die Westentasche des weltbeherrschenden Londoner Gentleman über Karussells, die den spielerischen Nachvollzug der Erdbewegung ermöglichen, bis hin zur Allmachtsphantasie von Karten im Maßstab 1:1. Für Landschaftsbau in geologischen Dimensionen stehen die Zürcher Punks, die sich 1980 »Nieder mit den Alpen« auf die Fahnen schrieben. Die kulturhistorischen Wurzeln solcher utopischen Parolen werden in der Ausstellung genauso fundiert freigelegt, wie Phänomene der Hochkultur, etwa der »Blutregen« im Augsburger Wunderzeichenbuch des
16. Jahrhunderts.
Ob die Geoästhetik in einem realen Ausstellungsraum gut aufgehoben wäre? Nicht an der Wand, meint der Rezensent, aber vielleicht in einer geodätischen Kuppel nach Buckminster Fuller, der übrigens immer wieder zitiert wird. Im Netz jedenfalls überzeugt www.geoaesthetik.de mit einer einladenden Ausstellungsästhetik.