Nemo hat längst heimgefunden, doch Aquarien boomen immer noch: In Restaurants, Banken, Einkaufspalästen, aber auch im Wohnzimmer sind sie echte Hingucker und laden zum Träumen ein. Zauberische Wesen bewegen sich schwerelos in einer blau-grünlichen Wunderwelt, niedliche Guppies flitzen durchs Wasser, vorzeitlich anmutende Tiefseemonster befeuern unsere Fantasie, aber auch naturwissenschaftliche Neugier. Ursula Harter hat diese enge Verbindung zwischen Kunst und Wissenschaft untersucht. Stefanie Handke ist ihren Gedanken gefolgt.
Wer ein Faible für Kultur und Mode des 19. Jahrhunderts hat, wird wohl unweigerlich auf Ursula Harters Buch stoßen. Lässt der Titel doch an Jules Verne, Weltausstellungen und geheimnisvolle Tiefen denken. Doch auch der Wissenschaft dient das Aquarium, ermöglicht es doch Meerestierforschung am lebenden Objekt. Und dieser Symbiose aus Schönheit und Wissenschaftlichkeit trägt bereits der Einband Rechnung: Angelehnt an Ernst Haeckels halb wissenschaftlich genaue, halb künstlerische Zeichnungen, rücken Medusen und Korallen den Titel ins rechte Licht. Zugleich ist damit das Programm des Buches vorgegeben: Die Autorin schreibt eine regelrechte Kulturgeschichte des Aquariums im 19. und 20. Jahrhundert und zeigt, welch enge Symbiose Kunst und Wissenschaft hier eingehen.
Optisch ist das Buch auf jeden Fall gelungen: Helles Blau und Bronze erinnern an Zoobesuche und das unwirkliche Licht eines Aquarienhauses und entführen die Leser in die Unterwasserwelt. Gespickt ist es – wie könnte es anders sein – mit Abbildungen aus Jules Vernes Romanen, den biologischen Untersuchungen Ernst Haeckels und Kupferstichen, die das Fin de siecle heraufbeschwören, aber auch mit farbenfreudigen Gemälden Redons, Klimts und Matisses. Sogar surrealistisch anmutende Polypen warten auf ihre Entdecker. Das erste Durchblättern haben die »Aquaria« eindeutig bestanden!
Und auch der Inhalt überzeugt: Ursula Harter schlägt einen Bogen von den ersten Zimmeraquarien und der Aquarienmanie über die großen öffentlichen Tierschauen hin zu wissenschaftlicher Meeresforschung und dem Einfluss der Unterwasserwelt auf so namhafte Künstler wie Odilon Redon, Arnold Böcklin, Gustav Klimt oder Henri Matisse, um nur einige zu nennen. Natürlich kommen auch Autoren wie Jules Verne, Victor Hugo und Heimito von Doderer nicht zu kurz. Damit eröffnet sich uns eine Rundumschau, die einen ganz in der bunten Unterwasserwelt schwelgen lässt. Denn: Bei aller wissenschaftlichen Bedeutung, das Aquarium ist und bleibt – eine Wunderkammer!
Doch zunächst führt die Reise in Salons und die allerersten öffentlichen Schauaquarien. Der Brite Philip H. Gosse und seine Forschungen über die Meerestiere vor den englischen Küsten lösten eine regelrechte Aquaria-Manie auf der Insel aus – England war »gossified«. Trotz hübscher Präsentation, stand hier zunächst das Studium der maritimen Wesen, der Wissenserwerb für Groß und Klein, im Vordergrund. Ganz im Sinne der modernen darwinistischen Lehre standen Polypen, Medusen und Tierpflanzen wie Anemonen sinnbildlich für die Evolution, boten aber auch meditative Blickpunkte in den Salons.
Genauso präsentierten sich denn auch die ersten öffentlichen Schauaquarien: In London, Wien, Berlin, Paris entstanden prächtige Bauten, teils modellierte man in ihrem Inneren Grotten, Canons und Höhlen, teils bevorzugte man eine moderne, doch repräsentative Architektur aus Stahl und Glas und überließ das Pittoreske den Gestaltern der Schaubecken – ganz im Sinne der artgerechten Haltung der Tiere. In welchem Gewand auch immer sie sich zeigten, in fast jedem Fall war der Zulauf groß und eine Eventkultur rund um Aquarien und Vivarien entwickelte sich: Wer chic sein und sich bilden wollte, ging ins Aquarium. Zahlreiche Zeugnisse aus Zeitschriften, aber auch aus Tagebüchern und Briefen, etwa Jules Vernes, illustrieren den Zeitgeist: Die Begeisterung für die Wissenschaft und eine darwinistische Betrachtungsweise paarte sich mit einer fast an die Zeit der Empfindsamkeit erinnernden Ergriffenheit, die sich bei der Betrachtung der Wasserwesen einstellte.
Im ersten Teil des Buches beeindrucken besonders die Glaskünstler: An Fantasien eines Max Ernst oder Paul Klee gemahnen die Glasmodelle der Familie Blaschka. Den künstlerischen Wert der eigentlich für wissenschaftliche Zwecke gedachten Modelle erkannten schnell auch Privatleute und andere öffentliche Träger und der Katalog der Glasbläser erweiterte sich innerhalb weniger Jahre um ein Vielfaches und wurde nun Privatpersonen angeboten. Betrachtet man aus heutiger Sicht etwa die Polypenmodelle, vermutet man eher ein abstraktes Figurenkonzept, jedoch handelt es sich dabei um wissenschaftlich genaue Modelle. Émile Gallé hingegen ließ sich von Treibgut und der Entdeckung, dass in der Tiefsee die Farbe Rot dominiert, anregen und schuf Gefäße, die auch aus dem Bauch eines Wracks geborgen sein konnten.
Das Konzept der Wunderkammer ist auch im zweiten Teil dominant. Hier jedoch werden auch wissenschaftliche Einrichtungen zu Kirchen der Monisten und zu Pilgerstätten für Intellektuelle und Gelehrte. Insbesondere Haeckels Schriften zeugen von seiner fast kindlichen Begeisterung für die Wasserlebewesen und den Einblick, den sie in die Evolutionsgeschichte gewährten. Er sah die natürlichen Formen der archaisch anmutenden Tiere als »Urformen der Kunst« und entdeckte in den Aquarien und Vivarien »neue Kathedralen«. Im Übrigen spielte der Zoologe auch mit dem Gedanken, eine künstlerische statt einer wissenschaftlichen Laufbahn einzuschlagen…
Eine dieser neuen Kirchen war die Zoologische Station Neapel unter der Leitung des Deutschen Anton Dohrn. Wissenschaftliche Laboratorien und öffentliches Aquarium ergänzten sich hier gegenseitig und Wissenschaftler wie Künstler trafen sich. Vor allem Arnold Böcklin dominiert den künstlerischen Teil des Kapitels: Mit Begeisterung besuchte er Neapel und die Station, eine enge Freundschaft verband ihn mit Dohrn. Die ging sogar so weit, dass der sich als lachender, pausbäckiger Triton in Böcklins »Im Spiel der Wellen« wiederfand. Man unternahm gemeinsame Ausflüge, entdeckte den Golf und seine Unterwasserwelt. Auch die Filmkunst kommt nicht zu kurz: Jean Painlevé und Ètienne-Jules Marey schufen mit ihren Bewegungsstudien von Unterwasserwesen nicht nur Werke der Filmkunst, sondern auch genaue und wissenschaftlich auswertbare Filmdokumente.
Auch Paul Klee hatte ein besonderes Verhältnis zum Wasser und zu Fischen und seit 1901 zog er immer wieder Inspiration aus der Beschäftigung mit Fischen und dem Angeln. Aquarienbilder, selbst Morgensterns »Fisches Nachtgesang« findet sich in einem seiner Bilder im Buch wieder. Wie so viele andere Zeitgenossen besuchte er die Zoologische Station Neapel und äußerte sich beeindruckt, wenn auch belustigt. In seiner Zeit als Lehrer am Bauhaus dienten ihm der Fisch und das Aquarium sogar als Lehrbeispiele für seine Kompositionsklassen.
Eher träumerisch geht es im letzten Kapitel der »Aquaria« zu. Das Aquarium löste in der Kunst allmählich das Fenster als Allegorie ab und wurde selbst ein Fenster zum Unbewussten, zur Seele. Besonders die Erforschung der Tiefsee legte diesen Gedanken an das tief im Unterbewussten Vergrabene nahe. Obendrein zog eine regelrechte Goldgräberstimmung Wissenschaftler und Intellektuelle ans Meer und zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Tiefsee. Die neuen Entdeckungen beeinflussten natürlich auch die Künste: Die abstrus aussehenden Tiefseewesen eröffneten neue Bildwelten etwa bei Odilon Redon, dessen »Vision sous-marine« im Grunde ohne Perspektive zurechtkommt und merkwürdig geformte Mikroorganismen präsentiert, ja fast aller Gegenständlichkeit verloren geht. Das Aquarium selbst wurde zum Fenster zur Seele oder zum Rückzugsort – etwa, wenn Heimito von Doderers Ulrich aus der »Strudlhofstiege« wie in einem Aquarium lebt. Das Goldfischglas wird ein Symbol der inneren Einkehr und des Eingeschlossenseins. Entsprechend düster sind Alfred Kubins Aquarelle, die das diffuse Dämmerlicht der Tiefsee heraufbeschwören. Den Gegensatz dazu bilden Matisse’s farbenprächtige Bildwelten, in denen der Goldfisch sein Karmesinrot auch dann weitergibt, wenn er gar nicht anwesend ist, und Klimts fröhliche, sexuell aufgeladenen Wassernymphen.
Nach 250 Seiten voller prächtiger Bilder, bin ich auch inhaltlich mehr als zufrieden. Ursula Harter breitet in ihrem Werk einen bunten Kosmos voller sphärischer Unterwasserwesen, düsterer Tiefseemonster und pittoresker Architekturen aus. Was die Fassade verspricht, hält der Inhalt: Die Autorin wird der Programmatik des Titels gerecht, immer wieder zeigt sie enge Beziehungen zwischen Künstlern, Literaten und Wissenschaftlern auf, die durchaus überraschen können. Der reichen Symbolik der Welt hinter Glas und unter Wasser kann man sich als Leser nicht entziehen und wähnt sich ebenfalls in einer lesbaren Wunderkammer. Und ganz ehrlich, nur unter uns: Vor allem wollte ich in herrlichen Jules-Vernes-Fantasien schwelgen – und selbst das konnte ich. Ein rundum gelungenes Buch!