Rezensionen

Anna Marie Pfäfflin/Jenny Graser/Silvia Massa (Hg.): Wir heben Ab – Bilder vom Fliegen von Albrecht Dürer bis Jorinde Voigt. Wienand Verlag

Am 31. Oktober 2020 ist Berlins Flughafen BER endlich an den Start gegangen. Aus diesem Anlass widmet sich das Kupferstichkabinett unter dem Titel »Wir heben ab!« dem Thema »Fliegen« zwischen jahrhundertelanger Faszination und aktueller Flugscham. Die Ausstellung fiel jedoch der Pandemie zum Opfer. Robert Bauernfeind hat sich jedoch mit dem Katalog auf Flughöhe begeben.

Cover © Wienand Verlag
Cover © Wienand Verlag

Im Sommer 2020 zeigte das Berliner Kupferstichkabinett unter dem Titel Wir heben ab eine Ausstellung zum Thema Fliegen. Die Schau mag geplant gewesen sein in Hinsicht auf die Eröffnung des Berliner Flughafens, die nach jahrelangen Verzögerungen schlussendlich bevorstand, aber sie dürfte eine andere Dynamik angenommen haben als vorgesehen: Unter den Bedingungen der Covid19–Pandemie, als man angehalten war, möglichst zuhause zu bleiben und nicht zu verreisen, dürften die zahlreichen in der Schau gezeigten Bilder vom Fliegen in besonderem Maße jene Träume von grenzenloser Freiheit stimuliert haben, mit denen der erdgebundene Mensch das Fliegen von jeher verbindet. Dass der Massenverkehr der Luftfahrt bereits vor Corona als ökologisches Desaster in der Kritik stand, gibt Dagmar Korbacher im Vorwort des Katalogs zu bedenken. Sie weist aber auch auf den Traum vom Fliegen als kontinuierlichem Stimulus in der Geschichte der Menschheit hin (zumindest in der des Abendlandes, denn die Schau konzentriert sich auf die europäische Kunstgeschichte) und auf die besondere Bedeutung des Fliegens in der Geschichte Berlins, wo mit Otto von Lilienthal einer der Pioniere der Luftfahrt tätig war und wo in der Nachkriegszeit die berühmten Rosinenbomber West–Berlin mit Lebensmitteln versorgten.

Ihrem Thema entsprechend sind die Ausstellung und der begleitende Katalog kulturgeschichtlich orientiert. Anhand von acht Aspekten zeigen sie Bilder des Fliegens zwischen Traum und Mythos, Theorie und Praxis jeweils diachron in einer historischen Spannbreite vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart. Das Anliegen bestand dabei weniger darin, systematisch und umfassend eine Geschichte des Fliegens abzubilden, als auf durchaus assoziative Weise die verschiedenen Gesichtspunkte zu beleuchten. Dazu vermochten die Mitarbeiter*innen aus den reichen Beständen des Kupferstichkabinetts auszuwählen. Zu sehen ist also ausschließlich Graphik, und diese Konzentration auf Bilder auf Papier verdeutlicht in der Abwesenheit von dreidimensionalen Objekten, von realen Flugmaschinen bzw. ihren Modellen, den theoretisch–diskursiven Ansatz der Ausstellung.
Anne Marie Pfäfflin erläutert diesen Ansatz in der Einführung damit, dass die Graphik stets auch als Raum freier Denkprozesse begriffen worden sei, als besonders geeignetes Medium für Entwürfe. Bis ins 19. Jahrhundert hätten Bilder fliegender Menschen etwas allenfalls Vorstellbares, aber nie Reales dargestellt.

Hendrick Goltzius, Phaeton, 1588, Kupferstich auf Vergépapier, © Staat-liche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett / Volker-H. Schneider
Hendrick Goltzius, Phaeton, 1588, Kupferstich auf Vergépapier, © Staat-liche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett / Volker-H. Schneider

Eine Orientierung für die Vorstellung fliegender Menschen bot vor allem seit der Renaissance das Naturstudium. Im ersten Teil des Katalogs erläutert Pfäfflin denn auch den sezierenden Blick von Künstler*innen der Frühen Neuzeit auf flugfähige Tiere wie Vögel, Fledermäuse und Insekten, deren Darstellung in Bildern nicht zuletzt dazu dienen sollte, ihren Flugapparat zu durchdringen. Zugleich vermochten solche Ausführungen einen bestimmten ikonographischen Apparat zu aktivieren; auch Tierstudien des 19. Jahrhunderts wie Félix Bracquemonds (1833–1914) Seemöwen von ca. 1882 sind stilisierte Naturbeobachtungen, die menschliche Sehnsüchte auf die Tiere projizieren. Dass diese Sehnsüchte tief im Menschen verankert sind, dass der Himmelsraum stets einen Abschluss von Weltbildern, gesellschaftlichen und kulturellen Überzeugungen bildete, zeigen die anschließenden Kapitel auf.
Silvia Massa erläutert wie der Himmel seit der Antike als Raum des Göttlichen galt: Albrecht Dürers (1471–1528) Holzschnitt mit Christi Himmelfahrt fasst das Thema ganz wörtlich auf, indem Christus, seine Spuren hinterlassend, enthoben wird. Ein Kupferstich von Michael Lukas Leopold Willmann (1630–1706) aus dem Jahr 1683 inszeniert die Himmelfahrt mit barocker Theatralik, wobei der Blick in die geöffneten Himmelssphären die Betrachter*innen überwältigen soll. Als antik–mythologisches Pendant dazu erscheint eine Entführung Ganymeds, die Nicolas Beatrizet (1515–1565) nach einer Zeichnung Michelangelos in Kupfer stach, und noch Käthe Kollwitz (1867–1945) zeichnete 1922 den Tod als emportragende Macht. Die Hybris, sich an höheren Sphären zu vermessen, wurde in der griechischen Mythologie bekanntlich bestraft, und so zeigt Kunsthistorikerin Silvia Massa im anschließenden Kapitel die umgekehrte Bewegung zur Himmelfahrt auf: Ikarus, Phaeton, Tantalos und Ixion stürzen in den berühmten Kupferstichen von Hendrick Goltzius (1558–1616) in schwindelerregenden Drehungen in die Tiefen, während ein Kupferstich von Jonas Suyderhoef (1613–1686) nach Peter Paul Rubens Höllensturz den freien Fall einer schier endlosen Traube von Leibern als letzte Strafe der christlichen Vorstellungswelt zeigt.

Walter Leistikow, Kraniche (erschienen in der Zeitschrift Pan), 1898, Lithografie in drei Farben auf Vélinpapier, © Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett / Dietmar Katz
Walter Leistikow, Kraniche (erschienen in der Zeitschrift Pan), 1898, Lithografie in drei Farben auf Vélinpapier, © Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett / Dietmar Katz

Wer sich in die Lüfte aufmachte, verstieß nach spätmittelalterlichen Vorstellungen gegen die göttlich–natürliche Ordnung. Darum wurde der Flug im 16. Jahrhundert zum Zeichen ketzerischen Verhaltens. Nur Hexen flogen; sie vermochten dies durch die Hilfe des Bösen. In Hans Baldung Griens (1484/85–1545) Holzschnitt Hexensabbat von 1510, dessen drastische Wirkung durch die Clair–obscur–Technik verstärkt wird, reitet eine Hexe auf einem fliegenden Ziegenbock; eine andere scheint im Rauch zu schweben, den der Zauber ihrer Kolleginnen ausgelöst hat. Und auch der Teufel selbst vermag zwischen Himmel und Erde zu agieren, wie Pfäfflin an den Graphiken von Gustave Doré (1832–1883) und Eugène Delacroix (1798–1863) nach Miltons Paradise Lost bzw. Goethes Faust erläutert; bei James Ensor (1860–1949) gerät 1889 die Erscheinung des zweiten Reiters der Apokalypse am Himmel zur Groteske, wenn die Menschenmassen unter ihm im skatologischen Exzess die Gedärme leeren.

Jorinde Voigt, Top 10 Popsongs/55 Adler, Var. VIII, 2006, Tintenroller und Bleistift auf Papier, © Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett / Dietmar Katz, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020
Jorinde Voigt, Top 10 Popsongs/55 Adler, Var. VIII, 2006, Tintenroller und Bleistift auf Papier, © Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett / Dietmar Katz, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Den Anlauf zur Darstellung tatsächlicher Flugapparate nehmen Ausstellung und Katalog dann über die rudimentärsten Simulationen des Fliegens: im Spiel. Ausgehend von einer verblüffenden Miniatur des späten 15. Jahrhunderts, auf der eine Nonne und einige Jungfrauen einander das Jesuskind zuwerfen, beleuchtet Pfäfflin spielerische Annäherungen ans Fliegen auf Bildern wie Max Klingers (1857–1920) Darstellung eines schaukelnden Mädchens aus den Rettungen Ovidischer Opfer und Fernand Légers (1881–1955) Lithographie Akrobaten.
Unter den Schlagwörtern »Fortschrittsglaube und Technikbegeisterung« erläutert Jenny Graser im anschließenden Kapitel Entwürfe zu Flugmaschinen und Flugbewegungen von Leonardo da Vinci (1452–1519) bis Jorinde Voigt (*1977), die in komplexen, wie naturwissenschaftliche Skizzen anmutenden Zeichnungen Flugbewegungen nach den Rhythmen von Popsongs taktet. Spezifische Bewegungen des Fliegens (genauer: Gleiten und Schweben) sind in ihrer graphischen Darstellung auch das Thema des folgenden Abschnitts. Einen Schwerpunkt bilden dabei Bilder jener Ballonfahrten, die nach den ersten geglückten Versuchen der Brüder Montgolfier (1740–1810 und 1745–1799) in ganz Europa als Spektakel inszeniert wurden; auch sie zeugen von der bereits im vorigen Kapitel thematisierten Technikbegeisterung eines von Vernunftideen geleiteten Zeitalters; mit Francisco de Goyas (1746–1828) Radierung Eine Art zu fliegen und Donatello Lositos (1940–2008) Lithographie Kain und Abel am Computer (1972) reflektiert Pfäfflin aber auch groteske und abgründige Visionen des Fliegens in der Graphik. Dass der Fortschrittsoptimismus, der Vorstellungen menschlichen Fliegens zumeist ‚beflügelt‘ haben mag, auch destruktive Folgen zeitigte, zeigt schließlich der letzte Teil von Ausstellung und Katalog auf: Unter dem Titel »Traum und Albtraum« stellt Jenny Graser nicht nur sarkastische Kommentare zum Mondflug wie Klaus Staecks (*1938) Siebdruck einer Cola–Flasche auf dem Mond von 1970 vor, sondern auch künstlerische Darstellungen von Militärflugzeugen als Mittel der Massenvernichtung bzw. deren Folgen. Dazu zählt etwa Otto Dix‘ (1891–1969) verstörende Darstellung der Opfer eines Fliegerbombenangriffs im Ersten Weltkrieg (1924), aber auch Peter Sorges (1937–2000) Triptychon Heißer Sommer von 1967, in dessen mittlerem Blatt ein Helikopter auf den Vietnam–Krieg hinweist.

Fernand Léger, Akrobaten (aus: Cirque), 1950, Lithografie in zehn Farben auf Vélinpapier, © Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett / Dietmar Katz, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020
Fernand Léger, Akrobaten (aus: Cirque), 1950, Lithografie in zehn Farben auf Vélinpapier, © Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett / Dietmar Katz, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Insgesamt gelingt dem Katalog, der immerhin 63 der 82 Exponate der Ausstellung in guter Qualität abbildet, eine essayistische Skizze einer Kultur– und Bildgeschichte des Fliegens. Diese Geschichte zu gliedern in eine Abfolge von der Naturbeobachtung über mythologische und religiöse Vorstellungen hin zur technischen Bewältigung und deren mitunter katastrophalen Folgen, aber auch zum fortwährenden Potential der Luftfahrt, ist ein überzeugendes Vorgehen. Gegenwärtig, so beschließt Jenny Graser den letzten Text des Katalogs, verursache das Fliegen als Massenverkehr mitunter Scham und Sorge, während zugleich über Möglichkeiten einer touristischen Erschließung des Weltraums nachgedacht würde. In diesem Sinne sei der Katalog als anregender Beitrag zu einem Thema empfohlen, das in seinem kontroversen Potential noch lange relevant bleiben dürfte.


Wir heben ab! / Time for Take–off!
Herausgeber: Anna Marie Pfäfflin/Jenny Graser/Silvia Massa
Bilder vom Fliegen von Albrecht Dürer bis Jorinde Voigt
Wienand Verlag
112 Seiten/76 Farbabbildungen
Größe: 20x22 cm
Sprache: Deutsch/Englisch
ISBN 978–3–86832–597–3

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