Der Katalog einer Ausstellung des Franz Marc Museums in Kochel am See ist ein ungewöhnlich schönes Geschenkbuch, findet Stefan Diebitz.
In neun Kapiteln stellt der Band Gemälde des Expressionismus mit poetischen Texten aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zusammen. Dabei werden dem Expressionismus in sehr großzügiger Weise auch Dichter wie Theodor Fontane, Stefan Zweig oder Thomas Mann zugesellt – auf diese Weise soll ein Epochenbild entstehen.
Der Band enthält keine wissenschaftlichen Aufsätze, sondern nicht mehr als das knappe Vorwort der Herausgeberin und dazu noch einen Überblick über die Kapitel durch den Romancier Michael Kumpfmüller. Kumpfmüller fragt sich, ob man noch einmal ganz neu mit dem Expressionismus anfangen, also die berühmten oder auch weniger berühmten Werke so sehen könne, als ob man sie ein erstes Mal sähe. Denn »Sehen (im ursprünglichen Sinne)«, so schreibt er, »heißt ja Erschrecken, heißt Erstaunen«. In genau dieser Weise, findet er, »müsste man die Arbeiten des deutschen Expressionismus noch einmal zu sehen versuchen.«
Kann das gelingen? Manchmal vielleicht schon, etwa im ersten Kapitel unter dem Titel »Die Farben des Himmels«, in dem wir Landschaftsbilder von Nolde, Pechstein und Heckel zusammen mit einem Text von Kandinsky über die Farbe Blau finden, der aus seinem Großessay »Über das Geistige in der Kunst« von 1912 stammt. Das zweite große Zitat dieses Kapitels ist dem »Stechlin« entnommen und demonstriert eigentlich nur den schier unüberwindlichen Abstand zwischen der von untergründigen Konflikten bereits erschütterten, aber alles mit feiner Kultur überdeckenden Welt des späten 19. Jahrhunderts und der von jungen Malern zehn, fünfzehn Jahre später, die nackt in Waldseen schwimmen und hinterher auf Leinwänden herumwüten. Fontane denkt (oder wünscht?) man sich von Impressionisten illustriert, nicht von Expressionisten. So schön die Passage aus dem »Stechlin« auch ist – sie beschreibt in einem wunderbar mokanten Ton das Kloster Wutz, in dem Woldemars Tante Adelheid wohnt und mit altjüngferlicher Strenge über ihre Stiftsdamen herrscht –: sie entstammt doch einer ganz und gar anderen Welt.
Etwas eigenartig ist es auf jeden Fall, dass der Band kaum Lyrik und überhaupt keine dramatischen Texte zitiert, sondern fast ausschließlich dichterische oder autobiografische Prosa, wenn wir von einem einzigen schönen Poem von Rainer Maria Rilke absehen. Immerhin steht nichts mehr für den literarischen Expressionismus als die von Karl Pinthus herausgegebene Lyrik-Anthologie »Menschheitsdämmerung«. Auch gab es den düster-prophetischen Zusammenklang von Lyrik und Bildern in »Umbra vitae« von Georg Heym, illustriert mit Holzschnitten von Ernst Ludwig Kirchner. Auch die expressionistische Skulptur spielt in diesem Band überhaupt keine Rolle, und wem würden da nicht ganz große Namen einfallen?
In »Kinderspiele« finden sich Radierungen von Heckel und Beckmann mit Gemälden von Paula Modersohn-Becker und Emil Nolde; die Texte dieses Kapitels stammen von Walter Benjamin und Thomas Mann – aber aus den »Buddenbrooks«, nicht etwa aus dem »Zauberberg« oder einer Erzählung. Expressionistisch, auch in einem weiteren Sinne, ist beides nicht, so wenig wie der Ausschnitt aus den Lebenserinnerungen von Stefan Zweig.
Reiche Ernte bieten sowohl die Literatur als auch die Kunst zum Thema Großstadt, hier eigentlich zweimal abgehandelt, einmal unter dem von Botho Strauß entlehnten Titel »Paare Passanten«, das andere Mal als »Städtischer Rhythmus« vorgestellt. Sowohl Blätter von George Grosz als auch Arbeiten von Lyonel Feininger passen sehr gut zu einem Ausschnitt aus Heinrich Manns »Der Untertan« oder Alfred Döblins »Berlin Alexanderplatz«.
Über die Zusammenstellungen der Bilder lässt sich gut diskutieren, aber weil es ausnahmslos gute, sogar sehr gute und schöne Bilder sind, neige ich zu einem einfachen Durchwinken. Manches – etwa den oben zitierten Essay von Kandinsky oder Rilkes »Auguste Rodin«, in dem er die Herzensgüte Rodins im besten Rilke-Sound besingt – manches oder auch nur vieles mag man als Anregung aufgreifen; und so ist dieser Band eher ein gutes und passendes Geschenk für diejenigen, die erst damit anfangen, sich mit dieser Epoche zu befassen, als für diejenigen, die sich bereits gut auskennen.
Schwierig wird es, wenn man aufzählt, was und wer alles fehlt. Unter den großen Künstlern der zwanziger Jahre ist es vor allem Otto Dix, von dem unbedingt ein Bild zu finden sein müsste, auch wenn er kein Expressionist gewesen ist. Vielleicht fehlt er vor allem deshalb, weil der Krieg in diesem Band nicht vorkommt? Es gibt tatsächlich kein einziges Bild, keine einzige Zeichnung, auch keinen Text, die auf die basale Katastrophe des 20. Jahrhunderts verweisen würden. Dabei haben auch noch andere Meister den 1. Weltkrieg gemalt, und ob man die großen Bilder von Dix, Beckmann oder anderen mit Texten von Ernst Jünger oder doch eher von Erich Maria Remarque zusammenstellt, darüber kann man sich dann immer noch unterhalten. Keine Frage aber, dass nichts für die Jahre bis 1933 wichtiger gewesen ist als das Erlebnis des Krieges. Und eben dies fehlt; oder es wird verschwiegen.
Wer diesen Band in die Hand nimmt, findet alles wunderschön – und schön ist auch alles, vom Layout des Kataloges über die einzelnen schönen Bilder bis hin zu den Texten. Aber vielleicht ist es doch ein wenig zu schön.