Buchrezensionen

Ralf Beil, Uta Ruhkamp (Hrsg.): Pop Art in Great Britain. This Was Tomorrow, Wienand Verlag 2016

Drei Kilo schwer, 420 Seiten stark, bunte Bilder, kapitale Überschriften, jede Menge »Candy« für die Augen, von dem man sich gerne zum Blättern und Stöbern verführen lässt: Das ist der unter dem spröden Titel »Pop Art in Great Britain« veröffentlichte Ausstellungskatalog zur großen Überblicksschau des Kunstmuseums Wolfsburg aus dem vergangenen Winter. Torsten Kohlbrei hat sich zum Blättern und Lesen verführen lassen.

Die Stärke des im Wienand-Verlag erschienenen Katalogs liegt zweifellos im großzügigen Ausbreiten des historischen Materials. Die Protagonisten der britischen Pop-Art – Paolozzi, Henderson, Hamilton, Smithson, Blake, Hockney, Kitaj, Boshier, Boty, Phillips, Laing, Jones, Self, Haworth, Price, Donaldson, Caulfield, Smith, Archigram, Tilson – werden jeweils mit mehrseitigen Texten und noch umfassenderen Bildstrecken vorgestellt. Neben diesen eher enzyklopädischen Beiträgen gibt es weitere Foto- und Überblicksseiten sowie thematische Essays, die den Leser noch tiefer in die Zeit zwischen 1956 und dem Ende der sechziger Jahre führen.

Interessant ist diese Zusammenstellung zunächst für Leser, die sich erstmals mit der Pop-Art beschäftigen. Aber auch wer mit der Kunstproduktion des Swinging London vertraut ist, kommt auf seine Kosten. Neben der Dokumentation der legendären und in der Wolfsburger Ausstellung rekonstruierten Installation »Fun House« von Richard Hamilton (1956) gibt es zahlreiche weitere (Wieder-) Entdeckungen.

So bekommt die Pop-Art im Katalog durch die Vorstellung der lang vergessenen Pauline Boty ein weibliches Gesicht. Denn obwohl die Pop-Artisten soziale und kulturelle Schranken aufhoben, die tradierte Zuordnung Frau = Modell, Mann = Maler wurde durch den Einbezug von Massenkultur eher manifestiert. Boty (1938-66) studierte am Royal College of Art in der Klasse für Glasmalerei und lernte schon bald führende Köpfe der Pop-Artisten kennen. Gleichzeitig arbeitete sie als Schauspielerin und verkörperte – so Sue Tate, Autorin des Boty-Aufsatzes sowie einer Monographie über die Künstlerin (2013) – in Person die Aufhebung der Grenzen zwischen Hoch- und Trivialkultur. Frauenbilder sind nicht nur Gegenstand ihrer Collagen und Gemälde; durch ihre freizügigen Selbstdarstellungen spielte sie unmittelbar mit den Rollenklischees und forderte sexuelle Selbstbestimmung. Der damit verbundene Anspruch nach vollständiger Gleichberechtigung wurde in der deutlich männlich geprägten Kulturszene nicht erkannt. Boty blieb auf das Kischee eines Pop Art-Starlets verkürzt und geriet nach ihrem frühen Tod mit 28 Jahren aus dem Blickfeld der Kunstgeschichte. Erst eine Ausstellung 2013 führte zu einer komplexeren Wahrnehmung.

Das ausgebreitete Kunst- und Kultur-Kaleidoskop wurde in Wolfsburg unter dem Titel »This Was Tomorrow« vorgestellt. Der Titel verweist auf eine Ausstellung von 1956, die in der Whitechapel Gallery stattfand, und den Schlachtruf der Independent Group, in der sich die erste Generation der britischen Pop-Artisten versammelt hatte, formulierte: This Is Tomorrow! Nach 60 Jahren widmen sich Ausstellung und Katalog dem euphorischen Jahrzehnt des Swinging London. Der Blick – das transportiert der nun veränderte Ausstellungstitel treffend – ist dabei eindeutig nostalgisch: Das damalige Morgen liegt nun in der Vergangenheit, diese »wesentliche Vorgeschichte unseres Heute« (Ralf Beil) lässt sich betrachten, die ungeheure Aufbruchsstimmung dokumentieren, Energie aber kann man nicht mehr daraus ziehen.

Und genau dieser mangelnde Schwung führt zur Kritik der respektablen Darstellung. Da mag man mit großem Spaß hin- und herblättern, letztlich bleibt der Band eine Begründung für die lustvolle Rekonstruktion schuldig. Ralf Beil (gemeinsam mit Uta Ruhkamp Kurator der Ausstellung) verspricht im einleitenden Text »Zur Aktualität der britischen Pop-Art« eine Einordnung, kommt jedoch über das Angebot einiger aktuell gebliebener Schlagworte wie »Konsumreflexion«, »Atompolitik«, »Befragung der Geschlechterrollen« nicht hinaus. Als das Besondere der eigenen Ausstellung stellt er den Blick auf weibliche Akteure und einen umfassenderen Kulturbegriff vor, der neben der bildenden Kunst und Musik auch Architektur und Medien vom Pop erfasst sieht.

Vielleicht hätte es dem Ausstellungsprojekt und seinem Katalog geholfen, wenn es den Ausblick auf die Zeit nach 1968 gestattet hätte. Schließlich produzieren Künstler wie David Hockney mit vielen Wandlungen bis heute. Ron B. Kitaj suchte künstlerische sowie religiöse Traditionslinien, in die er sich einspinnen konnte, und wurde genau für diese Weiterführung der popartistischen Position kritisiert. Andere Künstler erzielen noch immer bei Marlborough Fine Arts beachtliche Preise, obwohl ihre Namen nur noch Spezialisten geläufig sind. Diese Fortführung hätte Diskussionen eröffnet: Was ist aus der Affäre zwischen Kunst und Alltag geworden? War es der Tanz auf einem Vulkan, an dem sich Künstler seit Beginn der Moderne gewärmt haben und der nun erloschen ist? Ging es in London um Mode und Marketing oder doch letztlich »nur« um ambitionierte Malerei?

Nach der Lektüre einmal auf den Geschmack gekommen, wünscht man sich etwas weniger Eye-Candy und mehr Traubenzucker: kräftige thesentragende Muskeln am soliden kunsthistorischen Skelett. Oder mit den Worten eines Stickers, den eine weitere weibliche Ikone der Zeit auf einer Katalogabbildung selbstironisch trägt: Feed Twiggy.

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