Buchrezensionen

Golo Maurer: Italien als Erlebnis und Vorstellung. Landschaftswahrnehmung deutscher Künstler und Reisender 1760-1870, Verlag Schnell & Steiner 2015

»Auch ich in Arcadien« lautet das Motto der ersten Ausgabe von Goethes »Italienischer Reise«. Arcadien – das ist nicht nur eine Region in Griechenland, in mythischer Vergangenheit und gemäß der Überlieferung Vergils einst bevölkert von Flöte spielenden, dichtenden und singenden Hirten, die mit der Natur und den Göttern, Nymphen und Satyrn im Einklang lebten, sondern auch und vor allem Synonym für das Sehnsuchtsland der Deutschen im Süden, nämlich Italien. Mit seinem neuen Buch hat der Kunsthistoriker Golo Maurer den Italien-Mythos einer profunden Analyse unterzogen. Rainer K. Wick hat es gelesen.

Im autobiografisch grundierten Roman »Ich Ich Ich« von Robert Gernhardt aus dem Jahr 1982 erinnert sich der Protagonist seiner ersten Italienreisen in den 1950er Jahren, die den kunstbegeisterten, zeichnend und malend durch das Land ziehenden, noch nicht einmal zwanzigjährigen jungen Mann als »bewusstlosen Nachzügler« auf den Spuren von Richard Seewald und Karl Hofer, von »Rössing, Kanoldt und Beckmann, Purrmann und Peiffer-Watenpuhl, Lenbach und Thoma, Böcklin und Marées« zeigten. Und der Autor fährt fort: »[...] hinter diesen Künstlern tauchten nach und nach die Malerscharen auf, die im 19. Jahrhundert die Alpen überquert hatten, ausgerüstet mit Feldstaffeleien, Skizzenbüchern und zusammenklappbaren Hockern, die Rethel, Rottmann, Wasmann, Schadow, Nerly, Horny, Reinhold, Reinhart, Klenze, Schinkel, Hackert, Richter, Fries, Erhard, Hensel, Ramboux, Klein, Janssen, Carus, Fohr sowie Cornelius und die anderen Nazarener, Schnorr von Carolsfeld, Olivier, Pforr, Veit, Overbeck, vor welchen, nun sind wir bereits im 18. Jahrhundert, Koch, Tischbein und Goethe Italien kreuz und quer nach malerischen Motiven abgeklappert hatten. Auch sie nicht ohne Vorgänger.«

Diese Aufzählung enthält eine Reihe von Namen, die – neben anderen – auch in Golo Maurers elaborierter Untersuchung »Italien als Erlebnis und Vorstellung. Landschaftswahrnehmung deutscher Künstler und Reisender 1760-1870« auftauchen und dort eine zum Teil prominente Rolle spielen. Es handelt sich um die Habilitationsschrift des 1971 geborenen, heute am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien wirkenden Verfassers, einem ausgewiesenen Italienkenner, der 2003 in München mit einer Dissertation über Michelangelos Architekturzeichnungen promoviert wurde.

Maurers Buch ist keine nur äußere Fakten akkumulierende, mehr oder minder lineare Geschichte deutscher Künstler in Italien und ihrer Landschaftsmalerei vom Klassizismus über die Romantik bis in die Zeit der nationalstaatlichen Einigung Italiens und der Reichsgründung in Deutschland. Vielmehr handelt es sich um eine höchst intelligente Problemgeschichte der »Wahrnehmung von Landschaft als kultureller Praxis, [...] die sich vor allem für Umbrüche und Verschiebungen innerhalb dieser Praxis interessiert.« Italien wird als – Veränderungen erfahrendes – mentales Konstrukt deutscher Künstler in der zweiten Hälfte des 18. und in den ersten sieben Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts begriffen, und die Bilder werden nicht als objektive Bestandsaufnahmen konkreter »Orte, Landschaften und Topographien« gelesen, sondern als »Momente ihrer Wahrnehmung, individueller wie kollektiver.« Schon Heinrich Wölfflin hat 1915 in seinen »Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen« die Tatsache der historischen und kulturellen Bedingtheit von Wahrnehmung betont, und zahlreiche herausragende Kunstwissenschaftler haben sich seither in unterschiedlicher Weise mit diesem Problem befasst. Im Hinblick auf das Thema seiner Untersuchung fragt Maurer, was an den Landschaftsschilderungen deutscher Künstler und Schriftsteller aus Italien im angesprochenen Zeitraum auf tatsächlichem Erleben, auf Vorstellungen und auf Erinnerungen beruht, oder – um einen anderen Aspekt herauszugreifen – inwieweit die in den Bildern und Texten sich manifestierende »Visualität« Resultat unterschiedlicher Praktiken des Reisens, etwa mit der Kutsche fahrend oder als Wanderer, ist. Damit und mit der eminent politischen Fragestellung, ob das Interesse deutscher Künstler an italienischer Landschaft als gleichsam »ausgelagertes Stück Deutschland« etwas mit der nationalen Identitätsfindung gebildeter Deutscher zu tun haben mag, eröffnet der Autor ein Spielfeld, das ungleich größer ist als eine im engeren Sinne kunsthistorische Entwicklungsgeschichte erwarten lässt. Das sind einige der Fragen, denen Golo Maurer in vier Großkapiteln materialreich und mit größter Akribie nachgeht.

Im ersten Kapitel geht es um »Wanderlandschaften«. Maurer zeigt, wie sich im Zuge der um 1780 aufkommenden Wanderbewegung die Wahrnehmung und Darstellung italienischer Landschaften veränderte. Er konfrontiert diese Wandererlandschaften mit den älteren »Kutschenfahrerlandschaften« der Grand Tour-Reisenden und identifiziert hier, vereinfacht gesprochen, einen Paradigmenwechsel von der klassizistischen zur romantischen Landschaft. Dass die Wahrnehmung der Landschaft durch den Wanderer, der diese entschleunigte Form der Fortbewegung als dezidierten Emanzipationsprozess aus feudal geprägten Reiseroutinen und als bewussten Akt der Selbsterfahrung verstand, eine fundamental andere ist als die des Fahrenden (oder Reitenden), ist umstandslos nachvollziehbar. Ihr Signum sind »geologische Kleinstrukturen« und »botanischer Detailreichtum«, so wie es für zahlreiche Landschaftsdarstellungen deutscher Künstler gilt, die im frühen 19. Jahrhundert etwa im berühmt gewordenen Olevano Romano und dessen Umgebung, knapp 60 Kilometer östlich von Rom, gezeichnet und gemalt haben – Carl Pilipp Fohr, Julius Schnorr von Carolsfeld, Franz Horny und andere. Im Gegensatz zu diesen die romantische Naturerfahrung betonenden Landschaften steht als Sonderfall das Bild eines prominenten »Dienstreisenden«, nämlich des Hofarztes und Malers Carl Gustav Carus, der 1828 im Gefolge des sächsischen Mitregenten Prinz Friedrich August in Italien unterwegs war und dort kaum Zeit fand, vor Ort künstlerisch zu arbeiten. Es handelt sich um das kleine Gemälde »Erinnerung an Neapel«, das den aus einem Innenraum gesehenen Blick auf das Hafenbecken zeigt, ein sogenanntes Fensterbild. Es entstand zwei Jahre nach der Italienreise und ist ein »Erinnerungsbild«, das nicht von einer unmittelbaren Landschaftserfahrung, sondern eher von einem »unterbliebenen Landschaftserlebnis« zeugt.

Das zweite Kapitel thematisiert die Suche nach »griechischen« Landschaften in Italien. Hier geht es weniger um das Primärerlebnis von oder um die Erinnerung an Landschaft, wohl aber um die – oft literarisch vorgeprägte – Vorstellung von Landschaft, die dann mit konkreten Landschaftserlebnissen verknüpft wird. Interessanterweise war um 1800 nicht das griechische Mutterland selbst der Fluchtpunkt deutscher Griechenbegeisterung, sondern die italienische Halbinsel. Während Engländer und Franzosen das osmanisch besetzte Griechenland bereisten, boten die Landschaften Unteritaliens und Siziliens, also Großgriechenlands (Magna Graecia), der Griechenlandsehnsucht der Deutschen die ideale Projektionsfläche. Das hatte seit Winckelmann Tradition, der nie in Griechenland gewesen ist und damit das »Beispiel dafür gegeben [hatte], dass man sich den Griechen am besten annähert, indem man ihrem Land fernbleibt.« Neben den Sizilien-Landschaften Jakob Philipp Hackerts setzt sich der Autor in diesem Zusammenhang ausführlich mit den Zeichnungen von Christoph Heinrich Kniep und von Goethe auseinander, die der auf seiner Italienischen Reise zeichnende Dichter in großer Zahl angefertigt hat und mit den vorgestanzten »visuellen Mustern eines Claude Lorrain zu erfassen versuchte.«

Im Unterschied zu den »griechischen« Landschaften südlich von Neapel bis hinab nach Sizilien war es die landschaftlich an sich wenig reizvolle Campagna Romana, die, wie Maurer in Kapitel drei deutlich macht, den in Rom ansässigen deutschen Malern Motive in Hülle und Fülle bot. Ihnen ging es nicht um ein imaginiertes Griechenland, sondern darum, wie »Italien [...] wirklich ist«, um einen Buchtitel von Gustav Nicolai aus dem Jahr 1834 aufzunehmen. Diese Bilder zeigen eine alte, aber ruinöse Kulturlandschaft mit nur gelegentlichen Hinweisen auf die einstige, längst vergangene Größe Roms – verfallene Aquädukte und sonstige Architekturrelikte – also das, was der Autor in Abgrenzung gegenüber der barocken Ruinenlandschaft als »Landschaftsruine« bezeichnet. Hier dominiert eine auf Formen und Farben reduzierte malerische Bildsprache mit großen Strukturkomplexen (Ebenen, Bergen, Himmel, Wasser, Wolken). Maßgeblich ist das Kolorit, nicht die Linie, so etwa bei Heinrich Reinhold oder Carl Rottmann, und es wird eine ganz erstaunliche Tendenz zur Abstraktion sichtbar, insbesondere bei den Ölskizzen Carl Blechens aus den 1820er Jahren, die zuweilen schon die Grenze zur Gegenstandslosigkeit streifen und uns Heutigen deshalb so »modern« erscheinen. Faszinierend sind auch Blechens meisterhafte italienische Aquarelle, »Erlebnisbilder« in der Sprache Maurers, die in unnachahmlicher Weise das Licht des Südens einfangen.

Wie sehr sich Mitte des 19. Jahrhunderts unter den Vorzeichen des Historismus die Wahrnehmung italienischer Landschaft durch deutsche Maler nochmals veränderte, zeigt Golo Maurer im vierten und letzten Kapitel. »Mittelaltersehnsucht, Zivilisationsflucht, Neuhumanismus und ein starkes Interesse für alles Historische« führten dazu, dass die Landschaft als Träger geschichtlicher Erinnerung begriffen wurde und gleichermaßen Griechisches und Römisches, Mittelalter und Renaissance, Dichtkunst und Geschichtsschreibung evozieren und damit »das Bewusstsein für die Vergänglichkeit bzw. Vergangenheit dieser Bezugspunkte« schärfen konnte. In luziden Analysen gelingt es dem Autor, diese These am Œuvre der sogenannten Deutsch-Römer Böcklin, Feuerbach und Marées zu verifizieren. Maurer verweist auf den Schriftsteller Ferdinand Gregorovius, Verfasser einer mehrbändigen Geschichte Roms im Mittelalter, und dessen Beschreibung eines Küstenabschnitts südlich von Rom zwischen Anzio und dem Monte Circeo, vor dem Odysseus gekreuzt und an dem Aeneas als Flüchtling aus Troja gelandet sein soll: das sogenannte Lateinische Ufer. Gregorovius habe damit einen neuartigen Typus südlicher Landschaft kreiert, nämlich – im Unterschied zu den farbgesättigten und lichtdurchfluteten Landschaften eines Rottmann oder Blechen – den des »melancholischen Gestades«. In seinem düsteren Gemälde »Villa am Meer« von 1865 hat Arnold Böcklin diesen Typus in prototypischer Weise visualisiert, in einem Bild, das mit den Worten Heinrich Wöfflins »Trauer und Melancholie« ausdrückt, die Stimmung von Schwermut transportiert und das »Gefühl von Verlassenheit und Öde« auslöst. Und wenig später, um 1870, hat sich Anselm Feuerbach in Figurenbildern wie »Iphigenie« und »Medea«, die die Vorstellung einer tragisch gestimmten Antike heraufbeschwören, durch die topographischen Besonderheiten der felsigen Küstenlandschaft bei Anzio anregen lassen, Werke, die eine Zeitlang als »deutsche Italien-Ikonen schlechthin« galten.

Golo Maurer entfaltet in seiner umfänglichen, substanzhaltigen und überaus sorgfältigen Untersuchung, die zur Freude des Lesers interessant geschrieben und großzügig bebildert ist, nicht nur das facettenreiche Panorama der Landschaftswahrnehmung und -darstellung deutscher Künstler und Reisender in Italien zwischen Klassizismus, Romantik und Historismus, sondern reflektiert mit methodischer Beharrlichkeit die politische Rolle, die für die Deutschen in jener Zeitspanne Italien als Erlebnis und Vorstellung im Rahmen der Herausbildung einer nationalen Identität gespielt hat – bis hin zum allmählichen Verlust dieser identitätsstiftenden Funktion nach der Gründung des Deutschen Reichs im Jahr 1871.

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